Predigt über Römer 8, 18-25 im Gottesdienst am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 17.11.2024 in der Ev. Kirchengemeinde Oberwinter (Pfarrer i.R. Wilfried Neusel)

Im Theaterstück „Warten auf Godot“ von Samuel Becket verbringen die Bettler Estragon und Wladimir ein freiwillig – unfreiwilliges Leben auf der Straße und warten auf den imaginären Retter Godot. Zwischen ihren skurrilen Versuchen, ihren klein karierten Alltag zu bestehen, zwischen ihren schnell wieder zerredeten Entschlüssen, sich am Baum auf zu knüpfen und der Beschäftigung mit dem Menschenschinder Pozzo und seinem Menschenhund Lucky kommt immer wieder der resignierte Dialog:  „Komm, wir gehen.“ „Wir können nicht.“ „Warum nicht?“ „Wir warten auf Godot.“ „Ach ja.“ „Ist er nicht gekommen?“ „Nein.“ „Und jetzt ist es zu spät.“ „Ja, es ist Nacht.“

Heute feiern wir den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres. Ach ja? Gibt es etwas zu feiern?  Zur Zeit wüten 43 Kriege und innerstaatliche Konflikte (bpb). Die Erde ist verwundet allerorten. Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme quälen Abermillionen unserer Mitmenschen. 120 Millionen Menschen sind deswegen auf der Flucht. Über 1000 renommierte Wissen-schaftlerInnen und sogar die Münchener Rückversicherung warnen uns seit vielen Jahren vor dem Katastrophenszenario, dass schon 2050 die Erderwärmung so stark sein kann, dass der Kreislauf der Natur kollabiert.

Der mächtige Braintrust European Union Institute for Security Studies empfiehlt der Europäischen Union angesichts der zu erwartenden Unruhen, die Reichen dieser Welt mit militärischen Mitteln von den Armen abzuschirmen und ökologische Oasen militärisch zu sichern. Ausdrücklich wird zugegeben: „Es ist moralisch abscheulich. Es ist eine Verlierer-Strategie, aber angesichts der Fakten unvermeidbar.“Die Millenium-Entwicklungsziele werden abgeschrieben, mit der Begründung, weder der Wille noch die Kapazitäten seien ausreichend, die Ursachen des Elends der Armen zu beseitigen.

Ab und zu werden die beiden Landstreicher philosophisch. Fetzen aus der biblischen Überlieferung flattern durch ihre Hirne. Sicher ist Wladimir nur eines: „Sicher ist, dass die Zeit unter solchen Umständen lange dauert und uns dazu treibt, sie mit Tätigkeiten auszufüllen, die – wie soll man sagen – auf den ersten Blick vernünftig erscheinen können, an die wir uns aber gewöhnt haben. Du wirst mir sagen, dass es        geschieht, um unseren Verstand vor dem Untergang zu bewahren. Klar. Aber irrt er nicht schon in der ewigen Nacht unergründlicher Tiefen? Das frage ich mich manchmal. Folgst Du meinen Gedanken?“ Estragon antwortet: „Wir werden alle verrückt geboren. Einige bleiben es.“

Hören wir einen Kommentar des Apostels Paulus aus Tarsus zur Lage: „Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zur Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“

Spinnt der Apostel? In der Gegenwart leiden für eine bessere Zukunft? Diese Propaganda zieht nicht mehr. An ihrer Verlogenheit ist der Ostblock zugrunde gegangen.

Der neo-liberale Kapitalismus wird genau so noch über Wasser gehalten. Wer weiß, wie lange noch? Demut sollen wir üben angesichts des grandiosen Spiels der freien Kräfte des Marktes. Mit ethischen Kategorien ist er nicht zu regulieren. Ein paar unschöne Krisen müssen noch überwunden werden, wir müssen dem Markt  auch Opfer bringen. Wer kein Leistungsträger ist, hat kein Recht mehr, mitzuspielen. So predigen es die Herrschenden.

Aber nein, Paulus spinnt nicht. Er verschließt seine Augen nicht vor der Realität. Er schreibt weiter: „Denn in sehnsüchtigem Verlangen wartet die Schöpfung (fiebernd) auf das Offenbarwerden der Söhne und Töchter Gottes. Wurde die Schöpfung doch der Nichtigkeit (dem Dunst) unterworfen, nicht weil sie es wollte, sondern weil er, der sie unterworfen hat, es wollte – nicht ohne die Hoffnung aber, dass auch die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit (von der Sklaverei der Verwüstung) befreit werde zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung seufzt (in akuter Not schreit) und in Wehen liegt, bis zum heutigen Tag.“

Die Schöpfung ist der Nichtigkeit, dem Dunst, wegen der willkürlichen Gewalt eines Herrschenden unterworfen. Damit ist Gott gewiss nicht gemeint, wie manche Ausleger behaupten. Die starken Worte, die Paulus in seiner Sprache, dem Griechischen verwendet, um diese Situation zu beschreiben, sind selten in der Bibel und weisen auf eine Spur. Wir finden den Weg zur Geschichte Israels unter der Fron-Herrschaft des Pharao in Ägypten. „Die Israeliten aber stöhnten unter der Arbeit und schrien, und von der Arbeit stieg ihr Hilferuf auf zu Gott. Gott hörte ihr Seufzen und gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Und Gott sah die Israeliten und nahm sich ihrer an.“ (Ex 2, 23f)

Die Herrscher der Welt wechseln. Zur Zeit des Paulus knechtet das römische Imperium die unterworfenen Völker, lebt prachtvoll und stolz auf dem Rücken der Sklavinnen und Sklaven, verwüstet den Waldbestand für seine Bergwerke, Kriegs-Flotten und Palisadenzäune.

„Die ganze Schöpfung seufzt, stöhnt, schreit und liegt in den Wehen.“ Paulus erinnert die christliche Gemeinde in Rom an Israels Erfahrung mit Gott. Die Flucht aus Ägypten und die Rettung durch das Schilf-Meer sind wie eine Geburt. Bevor das gelobte Land erreicht wird, zieht das neu geborene Volk 40 Jahre durch die Wüste, geht schwanger mit etwas unerhört Neuem. Es ist eine Mega-Schwangerschaft, dauert eine gewöhnliche doch 40 Wochen.

Nun ist die Zeit des Messias. In Israel wird von den „Wehen des Messias“ geredet.

Paulus nimmt das Bild auf. Der Horizont aber ist nicht mehr auf Israels Welt begrenzt. Der Horizont ist die ganze Schöpfung Gottes. Sie soll hineingeboren werden in die neue Welt Gottes, in der Gerechtigkeit wohnt und Gott alle Tränen von den Angesichtern seiner geliebten Kinder abwischt.

Im Englischen heißt das, was wir Wehen nennen, „labour pain“, Arbeitsschmerz. Eine Geburt ist harte Arbeit für die Schwangere, verbunden mit akuten Schmerzen, mit Schreien und Stöhnen. Aber es ist eben keine Agonie, kein Todeskampf. Alles konzentriert sich in der schwangeren Frau darauf, das Kind und sich selbst zum neuen Leben zu entbinden. Es ist eine schmerzhafte Arbeit in der Hoffnung auf die Freiheit eines glücklichen Lebens mit Gott. Das ist der Horizont der Hoffnung, das ist der Grund für das Urteil des Paulus.

„Doch nicht nur dies; nein, auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe empfangen haben, auch wir seufzen miteinander und strecken uns aus nach unserer   Anerkennung als Söhne und Töchter, auf die Erlösung (Auslösung) unseres Leibes. Im Zeichen der Hoffnung wurden wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung. Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld.“

Was soll das: „wir warten auf unsere Anerkennung als Söhne und Töchter.“? Eine Hilfe zum Verständnis haben wir im Brief an die Kolosser. Dort heißt es: „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, euer Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ (Kol 3,3f)

Mit anderen Worten: „Ihr lebt in der Gemeinde schon im Geist der neuen Welt Gottes. Ihr seid nicht mehr bestimmt von Hass, Gewalt, Egoismus und Gleichgültigkeit.

Aber die Herrschenden können es noch ignorieren. Sie können es verdrängen. Sie können die Befreiung durch Christus noch in den Bereich frommer Sage abschieben.

Sie können sich sogar das Mäntelchen des Christentums umhängen und doch nach den Spielregeln der vergehenden Welt handeln.“

Im Zeichen der Hoffnung wurden wir gerettet. Und deshalb harren wir aus in Geduld. Es ist kein Warten auf Godot, immer an demselben Schauplatz der lächerlichen Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit. Das resignative Fazit von Samuel Becket nach dem 2. Weltkrieg ist: „Hoffen und Harren hält manchen zum Narren.“

Wladimir sagt am Schluss des Stücks: „Also? Wir gehen?“ Und Estragon antwortet: „Gehen wir!“ Doch die letzte Regieanweisung sagt: Sie gehen nicht von der Stelle.

Paulus sagt etwas Anderes: „das Harren ist ein sehr aktives sich Ausstrecken nach der neuen Welt, ein tätiges Verlangen. Geduld heißt: dranbleiben, nicht weichen, einen langen Atem haben. Und diese Hoffnung ist ansteckend. Fast unbemerkt von den Eliten Roms wird die Herrschaft durch den Geist der Hoffnung unterminiert. Ein Gerücht geht um, dass die Kaiser und ihre Statthalter, die Reichen und die Schönen ihre Zeit hatten und mit all ihrer Pracht untergehen werden. Es gibt da Zellen eines neuen Lebens, wo die Ersten Diener aller sind, wo liebevoller Respekt anderen gegenüber regiert, ob sie Mann oder Frau, Sklave oder Freier, Jude oder Grieche sind.“

Die Hoffnung, von der Paulus spricht, ist nicht geboren aus der Angst vor dem Schrecklichen, sie ist nicht Ausdruck eines Fluchtreflexes, auch nicht die Frucht einer optimistischen Lebensführung, sondern Antwort auf etwas schon Erfahrenes. Diese Hoffnung ist geboren aus der Erfahrung des Volkes Israel und aus der Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus.

Und deshalb ist sie tragfähig und bricht den lähmenden Bann der Resignation und des Zynismus.

Was sagt der kleine Mann Simon Mmakasa, der die Organisation SMECAO, eine ökologische Basisbewegung im Nordosten Tansanias gründete: „Alles hin zu schmeißen, ist keine Lösung.“ Er hatte einen guten Job bei der Regierung als Experte für ländliche Entwicklung in der Hauptstadt. Er kam zurück in die Provinz, weil sein Vater Hilfe brauchte. Er sah die ökologische Verwüstung seiner Heimat, die bösen Folgen des Klimawandels und suchte Hilfe.

Die fand er bei einer evangelischen Partnerschaftsgruppe aus Deutschland. Der deutsche Pastor brachte ihn mit Brot für die Welt zusammen, und in 15 Jahren wurden unter der inspirierenden Leitung von Simon Mmakasa 40 000 Holz schonende Lehmöfen gebaut und 800.000 Baum-Setzlinge gepflanzt. Die Ziegelbrenner lernten, ihre Öfen mit preisgünstigem Reisspreu zu feuern, Frauen brauchen weniger Zeit und Geld für die Besorgung von Holz, und durch jeden Herd werden pro Jahr eine Tonne Kohlendioxid erspart.

Dieser wunderbare Mann war Realist. Er sagte in einem Interview: „Noch haben wir die Chance, die ökologische Vernichtung aufzuhalten. Falls uns das nicht gelingt, erwarte ich das Schlimmste.“ Aber er war ein hoffnungsvoller Realist. Darum lief er nicht weg. Er hat vielen Menschen neue Hoffnung gegeben und sie mit seiner Kreativität angesteckt. Er hat getan, was er tun konnte; und es ist gesegnet, es trägt Früchte.

So erfahren wir es auch von unseren Geschwistern im Partnerkirchenkreis Agusan in den Philippinen. Sie werden von der Regierung und von Milizen eingeschüchtert, Mitarbeitende sind ermordet worden, der philippinische Rat der Kirchen wurde von der Regierung als terroristische Organisation gebrandmarkt, Suppenküchen für vertriebene Indigenas werden als kommunistische Aktivität verteufelt. Und mittlerweile distanzieren sich auch einige mittelständische Kirchenmitglieder vom gesellschaftspolitischen Engagement der Vereinigten Kirche Christi in den Philippinen. Aber die Hilfe der Gemeinden für Opfer der immer häufigeren Taifune, für Vertriebene, für arme Kleinbäuerinnen und Kleinbauern geht weiter. Anbau von Kräutern für Basisgesundheitshilfe und ökologischer Landbau sind öffentliche Zeichen der Hoffnung für die geschundene Schöpfung. Das Eintreten für gerechten Frieden, für Demokratie und Menschenrechte wie auch für die Bewahrung der Schöpfung Gottes gehört zur DNA unserer Partnerkirche. Der Sprecher des Partnerschaftsausschusses von Agusan

zitierte vor einiger Zeit die Worte aus dem 4. Kapitel des 2. Briefs an die Gemeinde in Korinth: „In allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt., verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört. Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar werde. (V. 8-11)

Lassen wir uns von diesem Geist der Hoffnung inspirieren! Viele kleine Schritte helfen, Resignation und apokalyptischen Zynismus zu überwinden. Sie müssen nur getan werden. Und die großen Schritte in Politik und Wirtschaft müssen von uns beharrlich vertreten und eingefordert werden. Im 1. Grundartikel der Kirchenordnung unserer Rheinischen Kirche heißt es: „Sie ist gegründet auf das prophetische und apostolische Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments.“

Es gibt etliche Christinnen und Christen, z.B. Evangelikale in Brasilien und in den USA, die sich für besonders fromm halten und meinen, diese Schöpfung Gottes finde ihr Ende in einem apokalyptischen Inferno. Das sind oft dieselben, die in ihrem sehr weltlichen Leben als Unternehmer und als Konsumenten unbekümmert Raubbau an der Schöpfung betreiben.

Paulus können sie dafür nicht in Anspruch nehmen. Eine kosmische Schwangerschaft ist etwas Anderes als ein göttliches Terrorkommando. Es geht um den Sieg des Lebens, es geht um die Freude auf eine Welt, in der alle ihren angemessenen Platz haben. Johannes Calvin hat die Erde als einen Schauplatz, ein Theater der Herrlichkeit Gottes, beschrieben.

Im kommenden Advent ist uns die Zeit geschenkt, diese Herrlichkeit Gottes in uns wirken zu lassen, seine Teilnahme an unserem Geschick zu loben und ihn damit zu ehren, dass wir die Hoffnung auf die endgültige Offenbarung seiner Herrlichkeit in ausdauernder Geduld hier und jetzt leben. Es gibt etwas zu feiern – vielleicht manchmal unter Tränen – nämlich, dass wir nicht zum Teufel gehen. Wir müssen nicht vergeblich auf Godot warten. Wir dürfen unsere Häupter erheben, weil wir Gott, Ursprung und Ziel unseres Lebens, erwarten.  Amen