Predigt über Mt 9,9-13 im Gottesdienst der Ev. Kirchengemeinde zu Oberwinter am Sonntag Septuagesimae (5.2.2023), gehalten von Pfarrer i.R. Neusel

Die Gnade unseres Herrn und Bruders Jesus Christus, die Liebe unseres väterlichen und mütterlichen Gottes und die alles verändernde Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Der für heute vorgesehene Predigttext steht im Evangelium nach Matthäus, im 9. Kapitel, Verse 9-13. (Lesung des Texts nach der Elberfelder Bibel)

Liebe Gemeinde: „Die Gesunden brauchen keinen Arzt, vielmehr die, denen es übel geht. Geht aber hin und lernt, was es heißt: Güte will ich und nicht Opfer.( >Hosea 6,6 „Denn an Güte habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern.“) Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“

Dann ist ja alles in Ordnung! Wir gehören doch zur Gemeinschaft der Gesunden und Anständigen! Also lasst uns weiter machen mit unseren Gottesdiensten, mit Seminaren zur Gotteserkenntnis, mit Ausschussitzungen zur Pflege der Ökumene, mit Gemeindefesten. Für die Elenden im Süden der Welt und an den Rändern unserer Industrienationen haben wir ja bei Diakonie und Caritas, Brot für die Welt und vielen anderen caritativen Institutionen unsere Spezialisten.

Aber „die“ Pharisäer sind ja beunruhigt. Sie fragen die Jünger Jesu, warum er eine so enge Gemeinschaft mit Zöllnern, mit Ausbeutern im Dienste des römischen Imperiums hat. Sie wollen wissen, woher Jesus das Mandat hat, mit Sündern an einem Tisch zu speisen. Die Pharisäer sind ja, ob wir es glauben oder nicht, unsere Vorbilder. Sie wollten im Alltag der Welt die heiligen Überlieferungen der Schrift aktualisieren. Sie wollten die Heiligkeit Gottes in der Heiligkeit der Gemeinde erden. So wie die Pietisten in unserer protestantischen Kirchengeschichte die erstarrte Orthodoxie durch „praxis pietatis“ befreien wollten. Und daraus ist viel Segensreiches entstanden in Gottesdienst, Mission und Diakonie.

Aber bei den Pharisäern, bei den Pietisten wie bei uns herrscht die Sehnsucht nach klaren Grenzen. Wir meinen, die Grenzen zu brauchen für die Entwicklung unserer eigenen Identität. Wenn Jesus einen Zolleintreiber der Besatzungsmacht in seinen engsten Kreis von Schülerinnen und Schülern beruft, wenn er die im Orient überaus enge Tischgemeinschaft mit Menschen sucht, die dem Willen und den Weisungen Gottes offensichtlich nicht entsprechen, dann überkommt uns nicht nur die Berührungsangst vor zwielichtigen Milieus, sondern auch eine Identitätskrise.
Wir erleben es ja auch in der Politik, wenn in unsicheren Zeiten identitäre Bewegungen entstehen, wenn Populisten nach völkischer Reinheit schreien, Minderheiten stigmatisieren und das Heil in Freund-Feind-Denken suchen. Besonders die „Religionisierung“ von Politik, wie die Salafisten, Islamisten, aber auch Hindu-Fundamentalisten und ultra-orthodoxe Juden, russisch-orthodoxe Propagandisten und US-amerikanische oder brasilianische Evangelikale sie betreiben, ist der Versuch, einen Halt in einem klar umrissenen Milieu unter einer autoritären Führung zu finden, die uns genau sagen soll, wo es lang geht.

Religion kann einen tückischen Effekt haben, wenn sie ideologisiert wird, wenn sie erstarrt zum Bollwerk der vermeindlich Guten. Natur- und Geisteswissenschaften
leben davon, dass ich Erkenntnisse hinterfragen kann, dass wir um der besseren Erkenntnis willen in einen Gedankenaustausch kommen. In der fundamentalistisch pervertierten Religion geht es um letztgültige, um geoffenbarte Wahrheiten, die nicht hinterfragt werden dürfen. So wird Religion instrumentalisiert und zur Rechtfertigung von Hass- und Rachegefühlen der „auserwählten“ Gläubigen.
Welch ein Segen, dass in der jüdischen Schriftauslegung seit je her ein lebendiger Austausch der Bibelkundigen stattfindet, und dass Minderheitenmeinungen immer mitüberliefert wurden. Es gibt im Judentum keine Dogmatik wie in den christlichen Kirchen. Dialog statt „Congregation für die Glaubenslehre“ (einst die „Heilige Inquisition“).

Deshalb, so glaube ich, ist die Anfrage der Pharisäer aufrichtig, ganz und gar nicht hinterhältig. Sie haben Angst, dass in einer Zeit, in der wieder einmal ein fremdes Imperium die Herrschaft im Heiligen Land beansprucht und in Wirtschaft, Kultur und sozialem Leben jüdisches Leben infrage stellt, dass in dieser Zeit der Wille Gottes diffus wird und die gute alte religiöse Praxis, das Leben nach Geist und Buchstaben der Weisungen Gottes, der Gleichgültigkeit oder dem Opportunismus der jüdischen Mitmenschen zum Opfer fallen würde. Sie haben Angst vor dem Verlust der Geborgenheit. Sie haben Angst vor der Entfremdung ihrer Existenz.

Wir befinden uns also in bester Gesellschaft. Wie die Pharisäer haben wir erfahren und begriffen, dass Jesus kein Freak ist. Jesus ist kein Träumer. Er ist nicht einer, der durch Provokationen aufmischen will. Es geht ihm um die Überwindung von Grenzen im Dienst der neuen Welt Gottes. Es ist ja nicht so, dass er den Zöllner Matthäus zu einer Party oder einem Wochenendseminar über glaubwürdiges Leben im Dienste Roms einlädt. Er ruft dem Zöllner Matthäus zu: „Folge mir nach!“ Und der verlässt alle Sicherheiten und Privilegien und folgt Jesus auf der Stelle. Was das bedeutet, wissen wir: Anfechtung und Angst, Leid und Verfolgung. Es bedeutet aber vor allem: einen völlig neuen Blick auf Mitmenschen, auch auf Gegner. Es bedeutet eine zuvor undenkbare Nähe Gottes. Es bedeutet, in einer Gemeinschaft zu leben, die durch Liebe, durch Güte und Solidarität ein qualitativ erfüllteres Leben empfängt und das Motto „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ überwindet. Es gelingt der Schritt, das Bedürfnis der Anderen nach Anerkennung und Geborgenheit zu erkennen und Verantwortung auch für sie zu übernehmen.

So auch in der Erzählung von der Tischgemeinschaft. Jesus macht sich weiß Gott nicht den Zöllnern und anderen Sündern gleich. Es geht etwas von ihm aus, das Menschen aus ihren angestammten Verhältnissen und Befindlichkeiten herausholt.
Jesus befreit von der frechen Resignation, die wir vom Song „Wir sind alle kleine Sünderlein, es war immer so, es war immer so“ kennen. Jesus verkörpert (inkarniert) im wahrsten Sinne des Wortes die gnädige und heilsame Nähe Gottes. Und in der großen Sehnsucht nach dieser Nähe finden wir uns schließlich wieder. Auch wir sind nicht gesund. Auch wir brauchen die heilsame Nähe Jesu Christi, jeden Tag und jede Nacht neu.
Die Abgrenzungen unseres Lebens gegen Anpassung, Gleichgültigkeit,

Rechthaberei und Seelenkälte, auch gegen asoziales Verhalten der Regierungen des reichen Nordens gegenüber den Milliarden, die nach einem Leben in Sicherheit
und Würde lechzen, diese Abgrenzungen sind ja auch bei uns durchlässig. Wir sind immer wieder in der Gefahr, unseren Besitzstand und unseren Seelenfrieden auf Kosten der vielen Anderen zu wahren.

Warum, weil wir Angst vor Unsicherheit haben. Wir scheuen das Unübersehbare, das Diffuse. Das kann dazu führen, dass wir in der Sehnsucht nach Geborgenheit zu einem frommen Club verkommen.
Der Evangelist Matthäus (vielleicht war er der erwähnte Zöllner) macht uns klar, dass die Liebe Gottes, seine Barmherzigkeit und Treue die Kraft haben, uns zu verändern – und viele Andere mehr, wie wir in Geschichte und Gegenwart sehen.
Die einzige Möglichkeit, die Welt zu verändern, ist, unsere Mitmenschen zur Veränderung zu ermutigen.
Dekrete und Verordnungen, Strafverfolgung und Waffen können das Böse eindämmen, aber nicht überwinden. Jesus hat seine Bergpredigt durch seinen gewaltfreien Widerstand am Kreuz bekräftigt. Fromme Täuschung? Der Oberste des Hinrichtungskommandos kann nicht anders als bekennen: „Wahrlich, dieser war ein Gerechter“. Das war der Anfang einer weltweiten Revolution.
Der einzige Weg, das Leben qualitativ zu verbessern, ist Heilung durch Barmherzigkeit und Liebe.
In der Liebe finde ich die Kraft, den Teufelskreis des Bösen zu überwinden. Ich wende mich den Hasserfüllten, den Resignierten, den Mitläufern und Bornierten zu, mit der Bereitschaft, hinter ihre Kulisse zu schauen, ihre innere Zerrissenheit und Verbohrtheit wahr- und ernstzunehmen. Ich halte ihre abwehrende Einstellung aus, in der Hoffnung, dass sie neugierig werden auf ein Leben, das nicht in der Negation verharrt. Ich wende mich den Gleichgültigen und schon immer Angepassten zu, in der Hoffnung, dass Gott mehr schenkt als mit dem Strom zu schwimmen und die Not anderer zu verdrängen.
Ich rede nicht von einer naiven Liebe, nicht von einer rührseligen Barmherzigkeit.
Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen, strategisches Denken und die solidarische Unterstützung durch Gemeindeglieder und durch die vielen kostbaren Menschen guten Willens in der säkularen Welt sind wichtige Hilfen. Letztlich bedeutet Liebe, dass wir uns ohne Angst und geborgen in der Obhut Gottes auf Menschen einlassen, mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Der Horizont der neuen Welt Gottes umfasst eben alle seine Geschöpfe. Gott hat eine unendliche Leidenschaft für das Ganze.
Wenn wir hier in kleiner Zahl versammelt sind, könnte es ja desillusionierend wirken. Aber das spielt keine entscheidende Rolle. Wenn Sie mit der Freude über Gottes Güte und Liebe im Herzen heimkehren, wächst schon der Keim einer größeren Gemeinschaft. Wenn sie von Gottes Heiligem Geist begeistert sind, werden Sie auch geistesgegenwärtig und kreativ.
Ich bin ein Mensch, der seit 30 Jahren mit Depressionen leben muss. Oft habe ich mein Leben und das Leben überhaupt infrage gestellt. Aber ich erfahre immer wieder neu, dass die Kraft Gottes in den Schwachen mächtig ist und zur Vollendung kommt. Das ging schon dem Apostel Paulus so.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie sich nicht von Ihren Befindlichkeiten entmutigen lassen, sondern mit Jesus Christus im Gespräch bleiben und ihm vertrauensvoll nachfolgen.
Und der Friede Gottes, der unsere Vernunft beflügelt, bewahre unsere Herzen und Sinne in der Gemeinschaft mit Jesus Christus. Amen