Liebe Gemeinde, die Gnade Jesu Christi, die mütterliche und väterliche Liebe Gottes und die tröstliche Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Wir feiern diesen Gottesdienst am Sonntag „Judika“, heißt mit den Worten des Psalms 43, den wir soeben gelesen haben: „Schaffe mir Recht, Gott!“ Angesichts der millionenfachen Angst und Qual und der Empörung über kaltblütiges Unrecht in unserem Nachbarland Ukraine, aber auch angesichts des Elends im Jemen, in Afghanistan und Syrien, in Afrika und Lateinamerika packt der Psalm uns mit großer Wucht. Der neueste Bericht von Amnesty International weist akribisch nach, dass in 77 von 154 untersuchten Staaten Menschenrechtsverletzungen als Waffe von diktatorischer Regime zum Alltag gehören. Ein Grund, warum Herr Putin in Afrika mittlerweile in 30 von 54 Staaten Fuß gefasst hat. Er fragt wie seine Partner dort nicht nach Demokratie. 84 Mio Menschen sind weltweit auf der Flucht. 85% davon finden Zuflucht in Staaten des Globalen Südens.
Wir sind also nicht weit von der Zeit Jesu entfernt. An Demokratie bzw. Dienst am Volk dachte niemand. Ob in Babylonien, Persien oder Rom, die Herrscher regierten autokratisch. Kaiser und Könige verstanden sich als Stellvertreter Gottes auf Erden. Auch Griechenland hatte nicht wirklich eine Demokratie.
Hören wir nun den für heute vorgesehenen Predigttext. Wir finden ihn im Evange-lium nach Markus, im 10. Kapitel, Verse 35-45. Machen Sie gern von den vor Ihnen liegenden Bibel Gebrauch. Ich lese nach der Übersetzung der Zürcher Bibel:
Ist das zu fassen?! Jesus hat gerade zum dritten Mal seinen Leidensweg angekün-digt, da fragen Jakobus und Johannes nach einem Posten als Premierminister im Reich Gottes. Einfach so, an der Gemeinschaft der Jünger vorbei. Gerade noch hatte es einen Rangstreit unter den Jüngern gegeben (Mk 9,33ff). Jesus beendete ihn mit den Worten: „Wenn jemand der Erste sein will, dann soll er der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (V 35)
Trotzdem kommt diese Story: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, worum wir dich bitten.“ Es menschelt gewaltig auch unter den engsten Gefährten Jesu. (Von den Jüngerinnen hören wir diesbezüglich interessanterweise nichts.) Kurz zuvor „ergriff Petrus das Wort und sagte zu ihm: Wir hier haben alles verlassen und sind dir gefolgt.“ (Mk 9,28ff) Also Jesus: „Was bringt uns die Nachfolge?“ Jesus kündigt 100fachen Lohn für alle an, die um seinetwillen und um des Evangeliums willen Familie und Hab und Gut aufgegeben haben. Aber dazu nochmals Jesu Mahnung: „Viele Erste aber werden letzte sein und Letzte Erste.“ (V. 31)
Und wieder: trotz dieser eindeutigen Worte Jesu machen die Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes, bald darauf nochmals einen Karrierevorstoß: „Wir wollen, dass du für uns tust, worum wir dich bitten.“ Hatte Jesus nicht selbst gesagt: „Bittet, so wird euch gegeben“!? „Gewähre uns, das wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen werden in deiner Herrlichkeit.“ Jesus fragt die Beiden, ob sie denn auch seinen Leidensweg mitgehen würden. Und die antworten naßforsch, vielleicht im Überschwang ihrer Begeisterung für ihren Meister: „Wir können es.“ Yes, we can!“ „Wir schaffen das!“ Kindliche Allmachtsphantasien! Und dann kommt die ernüchternde Antwort Jesu: „Ihr werdet in der Tat meinen Weg in Schmach und Schande, in Ohnmacht und Verzweiflung mitgehen. Aber über die Platzvergabe im Himmel verfüge ich nicht.“
Bald darauf kommt es so : Jesus nimmt Petrus, Jakobus und Johannes mit sich nach Getsemani, um dort in seinem Todeskampf die Fürsorge seines Vaters zu erflehen. Die Gegenwart der Drei ist aber keine Hilfe. Sie verschlafen die entscheidende Stunde der Menschheitsgeschichte. Ich glaube nicht, dass sie beim letzten Mahl zu viel Wein getrunken hatten. Ihr Schlaf war m.E. ein deutliches Symptom ihrer Depression. Für einen Platz an der Seite des himmlischen Messias Jesus waren Jakobus und Johannes sichtlich ungeeignet. Nicht einmal die erste Station der Passion haben sie gemeistert.
Es ist eine Geschichte, in der Begeisterung für die Sache Jesu Solidarität auch im Leiden zu versprechen, und eine andere, den Taumelbecher (Jes 51,28) des göttlichen Zorns und die Taufe der völligen Lebenshingabe zu verkraften.Geht es doch nicht um Sühne für eigene Schuld. Es geht um stellvertretendes Leiden als letzte Konsequenz gewaltfreien Widerstands gegen die Gewaltstrukturen dieser Welt. Wir sind in bester Gesellschaft. Wer von uns leidet schließlich in der radikalen Nachfolge Jesu Christi? Es ist für uns ja schon belastend genug, wenn wir ständig einen Arzt oder eine Ärztin brauchen oder Stress im Alltag haben.
Jedenfalls kriegten Jakobus und Johannes erst einmal Stress mit ihren Gefährten. Offensichtlich nicht zum ersten Mal. Und da hinein eine messianische Proklama-tion: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen setzen ihre Macht gegen sie ein. Unter euch aber sei es nicht so, sondern: Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“
Jesus macht seinen Jüngern und uns klar, dass die Welt, auch unsere gegenwär-tige, von Gewaltstrukturen durchsetzt ist. Das ist gegen allen Anschein auch bei uns so, obwohl wir scheinbar auf einer Insel der Seligen leben. In Europa haben allerdings nicht in erster Linie die Regierungen das Sagen, sondern die Finanz- und Wirtschaftseliten. Der DAX ist unser goldenes Kalb. Wer ernsthaft für eine wirklich soziale Wirtschaftsordnung und für eine glaubwürdige Klimapolitik streitet, muss mit hartnäckigem Widerstand rechnen. Ja, Papst Franziskus schreibt lapidar: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Laudato Si) Wir mucken auch nicht auf, wenn unsere Oberen sich in Sachen Sanktionen gegen das Putin-Regime bis zur Unkenntlichkeit verbiegen. Denn schließlich möchten wir unseren Wohlstand nicht gefährden. Wir müssen uns aber klar machen, dass die große Mehrheit der Menschen auf dieser Erde ständig leidet. Es ist schrecklich, vielleicht aber auch heilsam, mitzuerleben, was Leid und Tod in der Ukraine bedeuten.
So können wir auch erahnen, was es in Afrika, Asien und Lateinamerika bedeutet, ständig um sauberes Wasser und eine Mahlzeit am Tag, um ein Stück Land oder eine halbwegs sichere Behausung zu streiten. Wir mögen ermessen, wie das ohne ärztliche Versorgung und ohne festen Job ist. Allein in Ostafrika leben 28 Mio Menschen in akuter Hungersnot. Und was tut unsere aktuelle Regierung: sie kürzt den Haushalt für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung um 10%! –
Wir sind in unserer so genannten Demokratie jedoch nicht nur Rädchen im Getriebe, sonder auch TäterInnen. Den meisten bei uns ist egal, unter welchen Umständen unsere Konsumartikel hergestellt und in die Regale gebracht werden. Hauptsache schön, Hauptsache gesund – Oh Haupt voll Blut und Wunden.
„Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener!“ In der Gemeinde Jesu Christi werden also Herrschaftsstrukturen auf den Kopf gestellt. Liebe Gemeinde, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Jesus die Machtstrukturen der Welt in seinen Worten und Taten radikal in Frage stellt und revolutioniert. Statt Herrschaft Dienst, statt Gewalt Fürsorge, statt Selbstanmaßung Förderung von Gaben und Begabungen, statt Ego-Trips Solidarität. Wir erleben das ja auf teilweise beein-druckende Art in sozialen und medizinischen Berufen, in Schulen, Rundfunk und Fernsehen. Und last not least in kirchlichen Einrichtungen wie Brot für die Welt, Caritas und Diakonie. Auch im kommunalen Bereich wird z.T. im Geiste der Worte Jesu gearbeitet. Die Katastrophe an der Ahr und an der Erft hat deutlich gemacht, wieviel Dienstbereitschaft in ganz gewöhnlichen BürgerInnen steckt. Jesus ist gekommen, um eine Welt ohne Gewalt, ohne sinnlose Zwänge und Bevormundung aus der Taufe zu heben. Aus der Taufe stellvertretenden Leidens und Sterbens.
Ich bin überzeugt, wie gewiss auch Sie, dass die selbstlose und tapfere Verteidi- gung von Leib und Leben der Menschen in der Ukraine zutiefst christliche Wurzeln hat. Die meisten sind Glieder der Othodoxen Kirche der Ukraine. Und wenn die Häupter der Russisch Orthodoxen Kirche es auch hassen wie die Pest: die Russisch Orthodoxe Kirche stammt von der Ukrainischen Kirche ab.
Was unser Herr Jesus Christus uns heute ebenfalls mit auf den Weg gibt, ist Achtsamkeit bzgl des Gebrauchs seiner Worte. Man kann seine Worte auch missbrauchen und auf diese Weise ins Gegenteil verkehren.
Das Wort „Diener“ ist ja in den christlichen Kirchen artig übernommen worden.
Im Lateinischen wie in englischsprachigen Kirchen heißen die Diener „Minister“. Das Wort ist sogar in den staatlichen Bereich übernommen worden. Friedrich der Große legte seine Herrschaftsprinzipien im Manifest von 1752 für seinen Nachfolger dar. „Die erste Bürgerpflicht ist, seinem Vaterland zu dienen.“ Er selbst nannte sich „erster Diener seines Staates.“ Ob er seinem Programm gerecht wurde, müssen wir an dieser Stelle nicht diskutieren. Fakt ist aber, dass in diesem gräßlichen Krieg Putins auch mit christlichem Gedankengut jongliert wird. Putin, aufgewachsen im kriminellen Milieu und mit Karriere im Geheimdienst, wurde angeblich noch zu Sovietzeiten vom Onkel des heutigen Patriarchen Kyrill getauft.
Er hält sich für ein treues Glied der Russisch Orthodoxen Kirche und genießt beste Beziehungen zu Kyrill. Das ideologische Konstrukt sieht dann so aus: die kollabierte Sovietunion ist im Schoße der Russisch Orthodoxen Kirche und mit der tätigen Hilfe des obersten Staatsdieners Putin wieder auferstanden und wird als neo-zaristisches Großreich die Herrschaft vergangener Generationen in neuem Glanz erstrahlen lassen. Es wird als heilige Pflicht propagiert, den dekadenten Westen einschließlich seiner Kirchen in Schach zu halten. Der Patriarch Kyrill scheut sich dabei nicht, auch die in Afrika beheimatete Ofthodoxie aufzumischen und die Russisch Orthodoxe Kirche als die allein wahre anzupreisen. Moskau wird als das dritte Jerusalem verkauft.
Wir sehen: man kann auch Wort und Geist Jesu ins Gegenteil verkehren. Wir kennen das ja durchaus auch in der Römisch Katholischen Kirche. Der Vatikan ist Weltmeister im Verdrehen des göttlichen Wortes. Die Römisch-Katholische Kirche hat schon seit dem 4. Jahrhundert enge Tuchfühlung mit weltlicher Macht gepflegt. Im hohen Mittelalter besaß die römisch katholische Kirche die Hälfte von Grund und Boden Europas. Sie rief zu blutigen Kreuzzügen auf. Und sie war ideologische Akteurin in den kolonialen Eroberungen. Immer mit dem Anspruch, Repräsentantin und Dienerin Christi auf Erden zu sein. Liebe Gemeinde, wir Evangelischen haben allerdings überhaupt keinen Anlass, überheblich zu sein. Luthers Judenfeindschaft und seine Betonung der engen Partnerschaft von Kirche und Staat zeitigten böse Früchte in der imperialen Ära des deutschen Reichs und des Hitlerfaschismus. Deutsche Kolonien waren keine Urlaubsoasen, die Kzs waren die Hölle. Nur wenige ChristInnen widerstanden.
Deshalb lasst uns wachsam sein, wenn wie bei Jakobus und Johannes zu schnell „Yes, we can“ oder „Wir schaffen das.“ zum geflügelten Wort wird. Barack Obama hat mit seiner überheblichen Rede von der „Regionalmacht Russland“ viel Haß hervorgerufen, und Frau Merkel hat den zahllosen Ehrenamtlichen zu wenig geholfen, die hunderttausende Menschen in der Flüchtlinshilfe zu unterstützen. Evangelikale und Pfingskirchen haben Diktatoren und rechte Populisten in Lateinamerika, Afrika und in den USA hervorgebracht und behaupten in ihrem Wahn, Gott zu dienen.
Entscheidend ist der letzte Vers unseres Predigttexts: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Die Glaubwürdigkeit der Kirche Jesu Christi, auch unsere ganz persönliche, hängt an der Bereitschaft zur Hingabe. Wenn Jesus von sich als dem „Menschensohn“ spricht, dann qualifiziert er sich nicht allein als unbestechlicher Richter der Endzeit. Er ist nicht nur der vollmächtige Vollstrecker des göttlichen Plans einer neuen Welt. Er nimmt in der Überlieferung des Markus stellvertretend die Konsequenzen von Sünde und Schuld auf sich. „Lösegeld“ ist ein Begriff aus der Sprache des Sklavenhandels. Hier ist gemeint: in Jesus Christus macht sich Gott unsere verlorene Sache zu eigen und befreit uns zu neuem Leben. Und da die Menge der himmlischen Heerscharen so wenig wie die jüdischen Widerstandskämpfer zur Zeit Jesu eine qualitative Veränderung unseres Lebens bewirken können, bleibt es bei Gott, die menschliche Schuld, die Strukturen der Macht und das Geilen nach Privilegien von innen her zu überwinden. Dorothee Sölle hat mal gesagt: „Wer am meisten liebt, hat am meisten zu leiden.“ Das Leiden ist die abgründige und mühselige Kehrseite der Liebe. Unsere philippinischen Geschwister sprechen von „productive suffering“, von produktivem Leiden, das verändernde Kraft in sich birgt.
Ich leide daran, dass viele unserer Kirchengemeinden so sehr in ihrer gutbürgerli-chen Nische leben, dass sie am wirklichen, d.h. am christlichen Leben kaum beteiligt sind. Es steht jeder Gemeinde gut an, mit aufmerksamem Ernst zu fragen, ob sie in der Nachfolge Christi lebt oder wie Jakobus und Johannes mit dem Buchen himmlischer Ehrenplätze beschäftigt ist. Vielleicht regt das schöne neue Gemeindehaus dazu an, sich solchen Fragen zu stellen. Wie es mit uns im Himmel sein wird, können wir getrost Gott überlassen. Nicht einmal der Messias Jesus hat Platzkarten.