Es ist still. Die Völker versammeln sich schweigend zum Weltgericht. Kein Propagandageschrei mehr, keine Amazon-Reklame; Nestle-Waren bleiben liegen in den Regalen liegen, Donald Trump, Erdogan und andere Großmäuler laufen bedrückt neben ihren Anhängern her, Präsident Modi möchte sich bei Mahatma Gandhi noch entschuldigen, aber der ist nicht zu sehen in der unübersehbaren Menge, Putin und Netanyahu bleiben einsam in ihrer Wut, die Vertreter und Vertreterinnen europäischer Regierungen geistern wie Teletuppies irgendwo im Abseits, und die Mullahs und Ayatollahs begreifen immer noch nicht, dass Hass kein Gottesdienst ist. Die Büros von Caritas International, von Brot für die Welt, Oxfam, von Medecines Sans Frontieres und von den Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen sind geschlossen.
Schweigen vor dem Thron seiner Herrlichkeit. Statt kosmischem Militäreinsatz der Menschensohn mit der Schar himmlischer Boten. Aus der unübersehbaren Menge der Nationen werden die Menschen voneinander getrennt, wie Schafe und Böcke rechts und links des Richterstuhls versammelt. Nicht Kollektive werden vom Menschensohn angesprochen. Jeder einzelne Mensch steht vor dem Richter. Wir sind dabei.
Der Menschensohn, gelitten unter der Ignoranz und Feigkeit der politischen und religiösen Elite Israels, unschuldig zum Tode verurteilt von Pontius Pilatus, von den Schergen des römischen Machtapparats gekreuzigt, gestorben und begraben, lebt und nimmt, von Gott autorisiert, das Amt des Weltenrichters wahr.
Die zur Rechten werden als Gesegnete Gottes beglückt mit dem Geschenk einer Erbschaft. Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Ihnen wird ein ewiges Leben im Reich Gottes geschenkt.
Die zur Linken werden als Verfluchte ins ewige Feuer verdammt, zusammen mit dem Teufel und seinen Engeln. Ich gestehe, diese Bildsprache erregt meinen Widerstand. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Worte nicht vom Heiligen Geist inspiriert sind. Aber ich kann mir vorstellen, dass Menschen, die unter Machtmiss-brauch und Willkür lange gelitten haben, die Hunger und Durst, Verachtung und Vertreibung aushalten mussten, in solcher Bildsprache Zuflucht suchten.
Wie auch immer, am Ende der Tage bestätigt der Gekreuzigte und Auferstandene, dass nicht alle Katzen grau sind. Die Worte des wunderbaren Adventspsalms 24 werden bestätigt: „Dem HERRN gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und die ihn bewohnen…Wer darf hinauf ziehen zum Berg des HERRN, wer an seine heilige Stätte treten? Wer reine Hände hat und ein lauteres Herz, wer nicht auf Nichtiges seinen Sinn richtet und nicht falsch schwört. Der wird Segen empfangen vom Herrn und Gerechtigkeit vom Gott seiner Hilfe.“
Nun bricht die ewige Freiheit der Gesegneten an, für die, welche die Weisung Jesu Christi beherzigt haben. Wie heißt es am Schluss der Bergpredigt? „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird ins Himmelreich hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut.“ (Mt 7, 21)
„Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. (V 35f)
Das bedeutet, dass die Gesegneten, die die Weisungen der Thora und der Propheten und die Schriften der Weisheit im Herzen bewahrten und befolgten, die Schöpfung Gottes und die Menschheit vor dem totalen Chaos bewahrt haben. Wenn wir allein das Unrecht und die Verlogenheit in unserem Land betrachten, könnten wir in Depressionen versinken. In unserem Land leben 226 Milliardäre und Milliardärinnen, 1,63 Millionen Millionärinnen und Millionäre. Wir könnten mit einer gerechteren Besteuerung die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden ohne Not finanzieren. Das Vermögen der Reichen ist auch in den Corona- und Inflationsjahren, trotz aller Weherufe über die Schwäche unserer Wirtschaft, rasant gewachsen und beträgt zur Zeit 7,2 Billionen Euro. Wie heißt es noch in unserem Grundgesetz, Art. 14.2? „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Stattdessen erbitterte Scheingefechte über das Bürgergeld, über zu hohe Lohnforderungen, über die sogenannte Migrationswelle und Asylantenschwemme. Jeden Tag neu sorgen die Lobbyisten in Politik und Wirtschaft dafür, dass die Plastikproduktion bleibt wie sie ist und Glyphosat bis 2033 Mensch und Natur verpesten kann. Mehr denn je werden trotz aller Warnungen, gemessen am technologisch Machbaren, die umweltschädlichsten Karossen der Automobilgeschichte produziert. Borgward entwickelte in den 50er Jahren einen PKW mit 3,5 Liter-Motor, Audi in den 70ern. Die Mineralöl-Gesellschaften haben den zu erwartenden Umsatzeinbruch verhindert und in den vergangenen Jahren trotz Klimakrise so hohe Gewinne erzielt wie noch nie zuvor. Greta Thunbergs Dummheit wird zum willkommenen Anlass, Friday for Future zu diskreditieren. Tiere sind keine Lebewesen mehr, sondern im internationalen Agro-Business nur noch Rohstoff. Wer nicht Kundin oder Kunde ist, existiert nicht mehr.
Mit aggressiver Werbung wird eine Konsum-Scheinwelt angepriesen, um vom Elend der Anderen abzulenken. Und die Bedürftigen, das so genannte Prekariat, also mindestens 15% unserer Bevölkerung, können bleiben, wo sie sind. Weil die Reichen nicht teilen wollen, kocht die Wut des Kleinbürgertums, wenn es um die Herausforderungen der Migration geht. Ein Kampf um Besitzstandswahrung. Also wird in der Politik an Strategien gebastelt, die Festung Europa auszubauen, zulasten derer, die aus den ehemaligen Kolonien Europas kommen und eine Beschäftigungsmöglichkeit suchen, um ihre Familien zuhause ernähren zu können. Dass 2,5 Mrd Menschen kein sauberes Trinlwasser haben, ist keine Schlagzeile wert.
Wenn die Gesegneten des Herrn, ob ganz privat, ehrenamtlich oder beruflich, nicht wären, die sich verantwortlich für das Wohl der Bedürftigen fühlen, wäre die Welt schon jetzt eine Hölle. Der infame anti-jüdische Vernichtungswahn im Dritten Reich hat nicht zuletzt bewirkt, dass das so genannte „Alte“ Testament mit seinen lebensdienlichen Weisungen als gesetzlich, als Judenkram abgetan wurde. Das Gift wirkt bis heute. Aber wir wissen, dass Gerechtigkeit in der gesamten Botschaft der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments darauf zielte, den Schwachen und Geringen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Ein Echo dieser Botschaft ist das Motto des Weltrates der Kirchen: „Gottes vorrangige Option für die Armen.“ Und:„Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.“ Medecines Sans Frontieres, Oxfam, Caritas International, Brot für die Welt, die Hilfsorganisasionen der Vereinten Nationen und die Seenotrettungs-Initiativen im Mittelmeer sind gesegnet mit Menschen, die das begriffen haben. Kanzlerin Merkels „Wir schaffen das“ 2015 wäre ohne die zahllosen Ehrenamtlichen in unserem Land desaströs gescheitert. Ohne das Leben schaffende und erhaltende Engagement der Ehren- amtlichen lebten wir schon jetzt in der Hölle.
Und was mich tief beeindruckt, ist, dass diese Engagierten, dass kleine aufnahmewillige Dorfgemeinschaften, Hausbesitzer:nnen und die vielen so genannten kleinen Leute im Alltag ihrer Hilfsbereitschaft nicht nach Belohnung schielen. Es ist ihnen ganz selbstverständlich zu helfen, auch wenn es zuweilen ein Wagnis ist. Vielleicht ist ihnen ihre Hilfsbereitschaft so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie ihnen gar nicht bewusst ist. „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig, und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt, und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen?“ (V 37-39) Ich kann mir gut vorstellen, dass zahlreiche Atheisten und Gläubige anderer Religionen und Weltanschauungen unter ihnen sind.
Und der auf dem Thron antwortet: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (V 40)
Es ist uns geläufig, dass wir zu Weihnachten die Inkarnation, die Menschwerdung des Erlösers betrachten und besingen. Aber hier kommt das nochmals in ganz anderer Weise zum Tragen: Nicht nur ist die Erde und was darinnen ist, Gottes Eigentum. Hier tritt zutage, dass Gott derart untrennbar mit seiner Schöpfung und mit uns Menschen verbunden ist, dass er so radikal Mensch wurde, dass alles auf dieser Welt ihn existentiell berührt. Sein Leben auf Erden, sein Leiden und Sterben war keine Episode. Alles, was wir tun, es sei gut oder böse, spürt er nach seiner Auferweckung so intensiv, als wäre er mitten unter uns. Und er freut sich, im Gericht die Schar der Vielen zu segnen, die getan haben, was Gott wohlgefällig ist. Die Gesegneten sind Salz der Erde und Licht der Welt gewesen, haben Wunden des Leibes und der Seele gepflegt, haben ermutigt, sind Angefochtenen beigestanden, sind für Recht und Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung Gottes eingetreten.
Nun, die Böcke zur Linken sind so erstaunt wie die Schafe zur Rechten. Sie haben das Elend des Menschgewordenen Gottes, sein Leiden, seine Ohnmacht, seine Krankheit und Schwachheit nicht zur Kenntnis genommen. Ja, es gehört eine gewisse Übung dazu, die Trägkeit des Herzen zu züchten. Gleichgültigkeit ist eines der größten Übel dieser Welt. „Man kann sich ja nicht um alles kümmern. Und wieso gerade ich? Unrecht hat es doch schon immer auf der Welt gegeben. Man
darf die Armut nun nicht auch noch romantisieren! Es ist halt so: Die Welt ist schlecht, jeder denkt an sich. Nur ich denk an mich.“
Wie schon angedeutet: mir ist die verdeckte Rache-Mentalität, die sich in der apokalyptischen Literatur in und außerhalb der Bibel findet, fremd. Aber der Zorn der Unterdrückten ist noch etwas Anderes als die kalte Rache von Tyrannen, die das Leben von abermillionen Menschen zur Hölle machen. Ich kann mich vom Zorn über sinnlose Zerstörung und Erniedrigung auch nicht frei machen. Mit dem Gericht Gottes ist es ab er vielleicht so, wie es in Grönland traditionell gehalten wurde. Es ging nicht um Strafe, sondern um die Erinnerung an das Koordinatensystem unseres gemeinsamen Lebens. In der katholischen und auch in der Tradition Immanel Kants wurde Sühne gefordert, um der Zurechnungsfähigkeit und der Würde der Delinquenten willen. Sogar die Verhängung der Todesstrafe wurde mit der Würde des Delinquenten begründet. In Deutschlands Gefängnissen regiert heute aber glücklicherweise der Resozialisierungsgedanke.
Was wir in dieser atemberaubenden Gerichtsschilderung lesen und hören, ist letztlich genau das, was wir jeden Sonntag betend erhoffen. „Erlöse uns von dem Bösen! Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit.“
Ja, bei Gott sind nicht alle Katzen grau. Es wird ein Ende des Wahnsinns und der Verderbnis geben. Die Vielen zur Rechten können aufatmen und sich freuen. Wir werden nicht dem Inferno preisgegeben, auch wenn wir uns im Gericht über eigene Nachlässigkeit und Schuld schämen werden.. Alles, was recht und gut ist, zählt, im Kleinen wie im Großen. Darauf spreche ich: Amen. Gepriesen seist du, Herrn der Welten. Amen
Bild – Gebete vom Sonntag 19.11.2023