Predigt über Jona 4, 1-11 im Gottesdienst der Kirchengemeinde Oberwinter am 3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2023, von Pfr.i.R. Wilfried Neusel

Die Gnade Jesu Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Liebe Gemeinde, was für eine Geschichte, diese Jona-Erzählung! Sie kommt so leicht daher wie ein Kinderbuch, wie die Literatur Hanns Dieter Hüschs. Und doch geht es um eine Auseinandersetzung, die nicht nur das Volk Gottes, Israel, immer wieder hin und her gerissen and auch zer-rissen hat, es geht auch um uns, um die Kirche Jesu Christi. Das Thema ist: Gönnen die Glaubenstreuen den veruchten Mächten dieser Welt einen Gesinnungswandel, eine Bekehrung? Und: können wir zufrieden und dankbar ohne Feindbilder leben?

Wer glaubte, dass Jona aus Angst vor der Supermacht Assyrien desertierte, wird  eines Besseren belehrt. Er hat sich von den Bergeshöhen Judas herunter begeben zur Küste. Furchtlos hat er sich ins Meer werfen lassen. In der tiefsten Tiefe des Meeres, im Bauch des Seeungeheuers psalmodiert er! Jüdische Ausleger zeigen, dass diese Bewegung von der Höhe in die Tiefe symbolische Bedeutung hat. Jona ist einer, der heruntergekommen ist!

Nur hat er nicht mit dem in der Bibel immer bedeutungsschweren „Abermals“ gerechnet. Wir lesen in Jona 3,1: „Da geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: Mache dich auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und ruf ihr die Botschaft zu, die ich dir sagen werde.“ „Zum zweiten Mal“: das ist wie die Geschichte vom Regenbogen nach der Sintflut. Und die Taube, auf hebräisch „Jona“, mit dem Ölzweig im Schnabel,war eine Friedensbotin. Zum zweiten Mal erschafft Gott nach der Sintflut die Welt. Nach dem Tanz ums goldene Kalb lässt  Gott von Mose eine zweite Ausgabe der 10 Gebote herstellen. In den 40 Tagen Jesu in der Wüste wird die Befreiungsgeschichte Israels aktualisiert. Nach der Verleugnung der Gemeinschaft mit Christus fragt Jesus Petrus: „Hast du mich lieb?“ Und Petrus, trotz Verrats erneut berufen, wird einer der prominentesten Zeugen des Auferstandenen, Christi Auftrag treu bis zum Märtyrertod.

Also zum zweiten Mal! Jona nimmt nun den Auftrag Gottes an. Furchtlos macht er sich auf den Weg zum Zentrum der antiken Megastadt Ninive und ruft: „Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört.“ Vom Aufruf zur Buße, zur Umkehr keine Rede!

Nicht einmal Gott wird erwähnt.

Was Jona überhaupt nicht erwartet hat, ist, dass die Bevölkerung der Metropole und sogar der König der Supermacht in Sack und Asche gehen, fasten und mit aller Kraft Gott um sein Erbarmen anflehen. Es liest sich so, als sei der Gott Israels auch im Feindesland eine bekannte Autorität.

Das dritte Kapitel des Buchs schließt mit den Worten: „Und Gott sah ihre Taten, dass sie von ihrem bösen Weg umkehrten. Und Gott ließ sich das Unheil gereuen, das er ihnen zu tun angesagt hatte, und er tat es nicht.“ (V. 10)

Was heißt „gereuen“? Wir erfahren von einer „Bekehrung“ Gottes! Wir erfahren, dass Gott kein unwandelbares Prinzip ist, sondern in leidenschaftlicher Zuwendung selbst zu seinen Feinden und zu den Feinden seines Volkes Israel lebt und handelt. Die Botschaft des Buches Jona ist:  Gott wirbt leidenschaftlich um Gemeinschaft mit seiner gesamten Schöpfung, in der Vergangenheit wie auch hier und heute!

Wir hören nun den für heute vorgesehenen Predigttext Jona 4, 1-11 (Elberfelder).

„Es missfiel Jona sehr, und er wurde zornig.“ „Ach, Herr, war das nicht meine Rede, als ich noch in meinem Land war? Deshalb floh ich schnell nach Tarsis! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt.“ Jona will lieber sterben als die Begnadigung der Feinde Israels erleben. Wenn sie eine Zukunft haben sollen, dann will er das nicht mehr erleben.

Liebe Gemeinde, wie kann so etwas kommen , dass ein orthodoxer Jude, dem in den Schriften immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit begegnet, in der Tora wie bei den Propheten, gottlos wird in seiner Rage? Ich kann die Wut ein Stück weit nachvollziehen. Immer wieder wurde das Volk Israel bedrängt, besonders durch die Assyrer, dann aber auch durch die Babylonier. Der Perserkönig Kyros wurde dann auf Geheiß Gottes zum Befreier Israels, aber das Leben in der alten Heimat war beileibe nicht paradiesisch. Es kamen die Griechen und die Römer, und immer war das jüdische Leben voller Bedrängnis.

Wir kennen aus dem zweiten Jesaja.Buch und vom Propheten Hesekiel harsche Gerichtsworte über das Unrecht der Kolonisatoren und in den Psalmen etliche Vergeltungsphantasien. Immer aber wird Israel auch an seine eigenen Verfehlungen, an seine Untreue und an das Buhlen mit den Mächtigen erinnert. Und immer wieder neu auch an Gottes Bereitschaft zum Neubeginn. „Du nun, Menschensohn, sprich zum Hause Israel: Ihr habt gesagt: Unsere Verfehlungen und unsere Sünden lasten auf uns, und wir vergehen darin; wie könnten wir da am Leben bleiben? Sprich zu ihnen: So wahr ich lebe, spricht Gott, der HERR, ich habe nicht Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, sondern daran, dass sich der Gottlose bekehre und lebe.“ (Hes 33,10f) Das gilt bei aller Kritik am Unrecht der Völker nun aber gleichermaßen auch ihnen. Besonders der zweite Jesaja eröffnet seinem Volk den universalen Horizont des befreienden Handelns Gottes.  Aber es gab nach dem großen Exil auch sehr restaurative Tendenzen. Die gesetzlichen Bestimmungen der Tora erhielten ein unvergleichliches Gewicht. Die strikte Befol- gung der Tora gewann trennenden Charakter. Bei Esra und Nehemia lesen wir, dass die Verbindung  mit Frauen aus dem Volk der Besatzer, die in der Zeit des Exils geheiratet wurden, als Gottesfrevel gebranntmarkt wird.

Der zweite Exodus, den Deuterojesaja verheißen hatte, führte Viele in Israel nicht in die Weite, sondern ins Ghetto. Die ultraorthodox Frommen verbreiteten ein toxische Atmosphäre. Der Jona der Jonaerzählung repräsentiert in der Zeit nach dem babylonischen Exil eine starke Fraktion in Jerusalem und Juda.

In dieser Zeit des äußeren Wiederaufbaus und innerer Erstarrung muss es jedoch Menschen gegeben haben, die die ganze Tora und das Zeugnis der Propheten bis hin zu dem großen Deuterojesaja im Ohr hatten. Einer von ihnen war der unbekannte Erzähler des Jona-Buchs. Kein Neuerer, aber einer, der gute alte Worte neu hört. Sein Plädoyer: Du Israel, solltest ein Segen sein, wie dem Erzvater Abraham verheißen! Ein Segen für alle Völker, für alle Geschlechter der Erde. Deine Verantwortung für die Welt ist nach den vielen, auch leidvollen, Erfahrungen mit den großen Völkern der Alten Welt nicht geringer, sondern größer geworden. Ihr habt durch Leid und Schmach hindurch einen globalen Horizont gewonnen! Die Paradoxie ist, das der fromme Jude vor Gott flieht, wie niemals ein Mensch der Völkerwelt vor Gott geflohen ist,vorsätzlich und hartnäckig bis zur Selbstzerstörung.

Wir können uns fragen, warum? Wie kann es geschehen, das ein Mensch, wohl wissend, dass er täglich neu auf Gottes Güte und Barmherzigkeit angewiesen ist, so ab grundtief von Hass gegenüber Menschen und Mächten anderer Kulturen und Religionen erfüllt ist? Die antijüdischen Karikaturen und Klischees sind schnell bei der Hand. Wir Deutschen kennen uns da besonders gut aus.

Bis heute gibt es noch Theologen, die von „Gesetzlichkeit“ des „Alten“ Testaments faseln, als Gegentext zum Neuen Testament. Ich glaube, dass die Attitüde des Jona ein krampfhafter Versuch ist, die eigene Identität zu behaupten. Im religiösen wie im säkularen Extremismus erfahren wir immer wieder, dass Extremisten ihre Identität aus Feindbildern basteln, sobald sie ihre privilegierte Position relativiert sehen.

Jona baut sich eine Hütte, um von oben herab Zuschauer des Schicksals der Metropole zu werden. Er möchte so gern den Untergang erleben, um seelisch entgiftet zu werden. Das Tragische ist nur, dass der Hass und die Freude am Untergang der bösen Welt seine Seele nicht entgiften.

Gott will mit dem Geschenk des Rizinus Jonas Herz erfreuen. Und ja, Jona freut sich sehr! Die Wende kommt durch einen Wurm und einen sengenden Ostwind, so dass Jona wieder in Todessehnsucht versinkt. Die in diesen Breitengraden ganz alltäglichen Risiken und Umstände des Lebens stürzen Jona in tiefe Depression, in Todessehnsucht. Gott stellt ihm die Frage, auf die wir ja im Buch keine Antwort erfahrfen, die offene Frage, ob es recht sei, dass er so abgrundtief unglücklich über den Verlust des Schattenplatzes ist, aber nicht verstehen kann, dass Gott abgrundtief betrübt über das Schicksal der Megastadt Ninive ist. 120.000 Menschen waren zur damaligen Zeit eine unvorstellbar große Bevölkerung. Ja, sogar das Vieh liegt Gott am Herzen. Gott schafft eine goldene Brücke zum Verständnis: „Du bist betrübt wegen des Rizinus, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast…Und ich, ich sollte nicht betrübt sein wegen der großen Stadt Ninive, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken..“ (V. 11).

Die humorvolle Kritik am Fundamentalismus ist in den biblischen Kanon aufgenom-men worden. Wo sonst finden wir so etwas in heiligen Schriften?

Sie gilt uns gleichermaßen. Denken wir nur an den „Heiligen“ Kirchenvater Augustinus, der streng zwischen  der Kirche, der „societas perfecta“ und dem Rest der Welt, der „massa perditionis“ trennte. Denken wir an die „heilige Inquisition“, die Kreuzzüge und die missionarische Überhöhung europäischer Kolonisierung, die mit der Dämonisierung indigener Kuktur und Religion einherging.

Und aktuell sind wir ja wieder in Gefahr, God’s own Country, die USA, als Bollwerk des Guten gegen die finsteren Mächte des Ostens und des Islam zu glorifizieren.

Ich glaube, dahinter ist die Sehnsucht nach unverrückbaren Koordinaten, das

Bedürfnis nach eindeutigen Grenzen, nach unangefochtener Orientierung. Dieses Bedürfnis wird dann gern religiös verankert, wobei die eigene Fehlbarkeit und Schuld gern dem gütigen Gott anheimgestellt wird, im Wahn, wir wären doch immerhin auf der richtigen Seite und hätten den rechten Glauben, während „die Anderen“ ja hinterhältig, niederträchtig, eben: gottlos, sind.

Salman Rushdie, ständig bedroht von Islamisten, hat im US-PenClub unlängst etwas Wunderbares gesagt: „The terror must not terrorize us!“ Frei übersetzt: der Terror der Gegner darf uns nicht bannen.

In den vielfältigen und z.T. unüberschaubaren Konflikten der Gegenwart, sollen wir uns seelisch nicht vergiften lassen. Das Böse, das Unfassbare kann eine Dynamik entwickeln, die unsere Seele verkrüppeln kann. Und dann geraten wir in den Strudel des Hasses und der Vergeltungsphantasien. Gerade, wenn wir sehr harmoniebedürftig sind, verlieren wir uns im Konfliktfall schnell in Gewaltphan-tasien. Die wunderbare Botschaft des Jona-Büchleins ist, dass Gott nicht ein Gefangener ewiger transzendenter Prinzipien ist, sondern uns auf oft überraschende Weise begegnet. Ich habe noch die Worte Desmond Tutus bei der Unabhängigkeitsfeier Namibias 1990 im Ohr: „Our God is a God of surprises!“ Wir sollen unseren Part dazu beitragen, indem wir grenzüberschreitend zum Segen werden. In meiner Zeit in Namibia wurde ich einmal gebeten, eine Bibelarbeit mit etwa 150 Jugendlichen im schwarzen Ghetto der Hauptstadt Windhoek zu halten. Ich hielt es in der beißenden Atmosphäre der Apartheit für gut, über das Wort Jesu „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen!“ (Mt 5,44) nachzudenken. Ich fragte wiederholt nach der Meinung der Jugendlichen. Druksen, Schweigen. Dann endlich kamen alle möglichen frommen Antworten, bis die fromme Blase platzte und einige zu sagen wagten, dass Jesus ja wohl keine Ahnung von der Realität der Welt hätte. Ich habe ihnen dann zu erklären versucht, dass die von Jesus gemeinte Liebe nichts mit Romantik oder „Piep piep piep, wir haben uns alle lieb“ zu tun hat. Sie verstanden dann, das die von Jesus gebotene Liebe bedeutet, einen Konflikt von mehreren Seiten zu betrachten und Verantwortung auch für den Feind zu entwickeln. Wie herb die Liebe dann auch immer erscheinen mag, sie ist in Konflikten die einzige nachhaltig verändernde Kraft.

Schön, dass uns dieses heitere, liebevolle Jona-Büchlein geschenkt ist. Die Milde und Freundlichkeit der Sprache ist genau das, was man „evangelisch“ nennt. Amen