Predigt über Joh. 20,19-29 von Pfarrer Wilfried Neusel am Sonntag Quasimodogeniti, 07.04.24 in Oberwinter

Liebe Geschwister, Freundinnen und Freunde, Skeptikerinnen und Skeptiker, Friede sei mit Euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt!

Ich lese den für den heutigen Sonntag Quasimodogeniti vorgesehenen Text aus dem Evangelium nach Johannes, aus dem 20. Kapitel, die Verse 19-29, in  der Übersetzung der Zürcher Bibel:

Da ist also zunächst die große Furcht der Jünger vor den Juden. Dazu Folgendes: Der Evangelist schreibt Gemeindegliedern der zweiten Generation, die unter der Herrschaft des jüdischen Königs von Roms Gnaden, Agrippa II, leben, dessen Gebiet den Libanon, große Teile Syriens und Israels umfasste. Wie sein Vater gab er sich einerseits wie ein hellenistischer Herrscher, andererseits unterstützte er die streng gläubigen Juden, die zum Teil auch administrative Befugnisse hatten. Wer als messianischer Jude aus der Synagoge ausgeschlossen wurde, hatte auch im zivilen Leben keine Sicherheiten mehr. Ebenso erging es den Heidenchristen, die im Herrschaftsgebiet Agrippas II lebten. Die Furcht der jungen Gemeinde ist also begründet. Unsere Gemeinden heute sind nicht mehr von solch unmittelbarer Konfrontation geplagt, aber wir spüren doch auch im so genannten „christlichen“ Abendland immer wieder die Angst von Kirchenleitenden, mit allzu deutlichen Glaubenszeugnissen und den Konsequenzen für das politische und gesellschaftliche Leben ins Abseits zu geraten. Die gesellschaftskritischen Äußerungen vergangener Jahrzehnte sind angesichts anhaltenden Mitgliederschwunds einem unheiligen Ringelpietz um die klerikale Achse gewichen.

Alles wird für die Verbarrikadierten anders, als Jesus in ihre Mitte tritt und sie mit seinem Friedensgruß zum Leben erweckt. Der Gruß Jesu Christi gilt auch uns: „Friede sei mit Euch.“ Die österliche Botschaft will uns die Lebensangst nehmen, die Furcht vor uns selbst, die Furcht vor Auseinandersetzungen, insbesondere, wenn es um Solidarität mit den Schwachen und gesellschaftlich Abgeschriebenen geht. Der Auferstandene stärkt uns, wenn es um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung Gottes geht, um die Furcht vor Einsamkeit und vor der Endlichkeit unseres Lebens, ja, auch um die Furcht vor dem Verlust geliebter Menschen. Jesus gibt sich zu erkennen als der Gekreuzigte. Er zeigt seinen Weggefährtinnen und Weggefährten seine Wundmale. Der Leidensweg des Messias, die Lebenshingabe Jesu Christi um der Liebe, ja auch der Feindesliebe willen, um der Versöhnung der Menschheit mit Gott und untereinander willen, ist keine Episode der Vergangenheit.

Aber der Leidensweg ist auch nicht das Ende. Am Schluß von Goethes Faust II heißt es: „uns bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich“. Der Auferstandene lässt sich durch den nicht nur peinlichen, sondern unendlich schmerzhaften „Erdenrest“ identifizieren. Das Leiden Jesu ist – wenn ich es einmal so sagen darf – in die DNA Gottes integriert. Vielleicht kennen Sie die „Gnadenstuhl“-Bilder, auf denen der Gekreuzigte im Schoß seines Vaters sitzt und der Heilige Geist in Gestalt der Taube über dem Haupt des Vaters. Wenn wir von der Macht Gottes sprechen, dann doch auch von seiner Erfahrung der Ohnmacht. Von der Ohnmacht, die Gott aushält – und überwindet. Die Versammelten sind froh, wie verwandelt, und nochmals hören die Versammelten den befreienden Gruß des Auferstandenen: Schalom. Dann Christi unfassbar kostbares Geschenk, der Empfang des Heiligen Geistes. Jesus hatte ihn schon zu Beginn seines Leidensweges angekündigt (16,7). Jetzt dürfen die Jüngerinnen und Jünger Jesu des Beistands und der Kraft des Heiligen Geistes gewiss sein. Das bedeutet geistliche Autorität, göttliche Kreativität, immer tieferes Verstehen der Wege Gottes und Mut zur Nachfolge Jesu Christi.

Ich gestehe, dass die Autorität, Sünden zu vergeben oder zu behalten, nach allen Erfahrungen mit der Schlüsselgewalt in unserer Kirchengeschichte über meinen Horizont hinaus geht. Ich verstehe aber, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu mit der Unterscheidung der Geister begabt werden. Im Sinne von 1. Thess 5, 21: „Prüft aber alles, das Gute behaltet.“

Für mich ist bezeichnend, dass Thomas, der Zwilling, der bei der Begegnung nicht dabei war, der frohen Botschaft seiner Gefährten keinen Glauben schenkt. Schon im Keim wird unser Glaube an eine selbstverständliche Wirkung der Mission in Frage gestellt. Er müsste doch zumindest seinen so eng Vertrauten Glauben schenken. Aber die Jünger könnten ja auch Wunschdenken zu  Opfer gefallen sein.

Also: „wenn ich meine Hände nicht in die Wundmale Jesu legen kann, werde ich nicht glauben.“ Nehme ich den Text ernst, ist einer der treuesten Gefährten Jesu, der als erster bereit war, den Leidensweg mit Jesus nach Jerusalem zu gehen (Joh. 11,16), und der sich, ganz aufrichtig, nicht scheute, am Beginn der Abschiedsreden Jesu zu sagen: „Herr wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie können wir da den Weg kennen?“(14,5), uns mit seinem aufrichtigen Zweifel recht nah. Er ist kein prinzipieller Skeptiker, er ist kein Zyniker, kein Agnostiker. Er pflegt keinen Relativismus. Er pflegt auch keinen resignativen Zweifel. Thomas kommt uns nah durch seine existentielle Sehnsucht, Gott zu erleben. Auf religiöse Spekulationen will er sich nicht einlassen. Und mit seinem Wunsch, seine Finger in die Wunden Jesu legen zu dürfen, macht er klar, dass er nicht irgendeinem göttlichen Wesen begegnen will, sondern dem, der mit den Jüngern und Jüngerinnen den Leidensweg ging. Er will den ganzen Weg Gottes mit uns Menschen begreifen, buchstäblich begreifen. Den Weg der Schande und den Weg der Überwindung von Tod und Verderben.

Für Thomas ist die Kraft der Auferstehung und des Heiligen Geistes durch die Lebenshingabe Jesu qualifiziert. Thomas ist einer, der nicht mehr singen muss: „Herr, lehre mich dein Leiden zu bedenken!“ Er hat es bedacht und als das Innerste der göttlichen Offenbarung erfahren. Jesus gewährt Thomas nach acht Tagen die liebevolle Antwort, mit der klaren Ansage: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Was dann von Thomas kommt, ist das umfassendste, ultimative Bekenntnis im Neuen Testament: „Mein Herr und mein Gott!“ Und so wird Thomas zur Schlüsselperson für kommende Generationen, die im Römischen Reich in Not und mit Anfechtungen leben. Wenn Jesus dann sagt: „Selig, die nicht mehr sehen – und glauben.“, hat Thomas mit seinem Zweifel dafür gesorgt, dass künftige Generationen verstehen können, wer der Auferstandene ist. Die Geschichte des Thomas, des ehrlichen und unbestechlichen Realists, macht uns bis heute deutlich, dass nicht philosophische Spekulationen oder angebliche religiöse Begabungen, sondern  allein Gottes Offenbarung, seine Selbstmitteilung, uns zur Erkenntnis der Wahrheit führt.

Nach dem Zeugnis der Kirchenväter wurde Thomas ein überaus tatkräftiger und überzeugender Missionar in den weiten Regionen des heutigen Irak, des Iran und sogar Indiens. Die Bezeichnung „Thomaschristen“ ist Ihnen sicher schon einmal begegnet.

Thomas ist für mich überzeugend, weil seine Sehnsucht nach Gott so ehrlich ist.

Was wir im Lauf der Kirchengeschichte an Frömmelei, Dogmatismus, Biblizismus, Hexenjagt, konfessionellen Kriegen und an Judenfeindschaft erlebt haben, hatte in der Zeit der Aufklärung nicht nur Unrecht, Hohn und Verspottung der Kirchenoberen zur Folge. Was Gott mit uns will, fand und findet deshalb so oft außerhalb der etablierten Kirchen statt. Aber aus beißendem Spott kann auch Relativismus entstehen. Und der mündet dann oft in Nihilismus bzw. Zynismus. Damit können die Herrschenden die Welt sich selbst überlassen, auf Teufel komm ‚raus. Und das ist m.E. auch ein wesentlicher Grund für das Erstarken autoritärer Bewegungen. Immer mehr voneinander isolierte Menschen sehnen sich nach Gemeinschaft, in der sie sich geborgen fühlen. Aber meistens auf Kosten anderer. Ja, vielerorts schwinden in Europa bis heute Glaubwürdigkeit und Autorität der Kirchen. Aber in Lateinamerika, Afrika und Asien wächst die Zahl der Gemeindeglieder. Ich denke, weil die Menschen die Osterbotschaft als eine kostbare Befreiung aus Not und Resignation erfahren, während die Kirchenglieder auf den Wohlstandsinseln von Verlustängsten geplagt werden. Dort begegnet mir der Glaube wie eine Praline auf der Herrentorte.

Aber ich liebe trotz aller Fragen und Anfragen die Gemeinschaft christlicher Gemeinden, auch hier in Oberwinter. In ihnen wird uns die Chance geboten, gemeinsam zu leben und die Nachfolge auf dem Weg Jesu Christi einzuüben. Keine Verurteilungen, keine christlichen Allgemeinplätze, keine angemaßten Herrschaftsallüren! In der Sehnsucht nach Gott, dem Vater Jesu Christi, können wir uns annehmen, wie auch Christus uns angenommen hat. Heilige Überraschungen sind ja auch bei uns nicht ausgeschlossen. Im laizistischen Frankreich gibt es seit einiger Zeit eine große Schar Erwachsener, die sich taufen lassen. Thomas ist für uns ein Fürsprecher des Zweifels und zugleich ein vorbildlicher Zeuge der liebevollen Zuwendung Gottes.

Und der Friede Gottes, der unsere Vernunft und unsere Herzen und Sinne beflügelt, bewahre uns in österlicher Freude.

Amen