Predigt über Ex 16, 2-3.11-18 im Gottesdienst der Gemeinde Oberwinter am 31.7.2022, gehalten von Pfr.i.R. Wilfried Neusel (Lesung nach der Übersetzung der Elberfelder Bibel)

Liebe Gemeinde,

zunächst ein fulminanter Ausbruch und Aufbruch in die Freiheit. Nach 430 Jahren Sklaverei im Dienst des damals größten Imperiums der Antike macht sich ein Volk mit Sack und Pack und mit allem, was es von den Ägyptern plündern konnte, ins gelobte Land. Im 12. Kapitel heißt es: „Nun brachen die Söhne Israel auf und zogen von Ramses nach Sukkot, etwa 600.000 Mann zu Fuß,.. (Die Zahl der dazu gehörenden Familienmitglieder wird nicht erwähnt.)  Es zog aber auch viel Mischvolk (wir sagen heute Menschen mit Migrationshintergrund) mit ihnen hinauf, dazu Schafe und Rinder, sehr viel Vieh.“ (Ex 12, 37f). Wie wir in den folgenden Kapiteln lesen können, erweist Gott sich in Wolken- und Feuersäule Tag und Nacht als Wegweiser und schützende Macht zugleich. Aber als die Streitmacht Ägyptens die Kinder Israels verfolgt, beginnt die Auseinandersetzung mit Mose, der wir auf dem Weg zum Sinai immer wieder begegnen: „Hast du uns deshalb weggeführt, damit wir in der Wüste sterben, weil es in Ägypten keine Gräber gab? Was hast du getan, dass du uns aus Ägypten gerausgeführt hast? Ist dies nicht das Wort, das wir schon in Ägypten zu dir geredet haben: Lass ab von uns, wir wollen den Ägyptern dienen? Es wäre nämlich besser für uns, den Ägyptern zu dienen als in der Wüste zu sterben.“ (Ex 14,11f.)

Dann, nach der glücklichen Flucht durchs Schilfmeer wieder Jubel aus voller Kehle: die Prophetin Mirjam, Schwester des Priesters Aaron, haut jubelnd auf die Pauke. „Und alle Frauen zogen aus, hinter ihr her, mit Tamburinen und in Reigentänzen. Und Mirjam sang ihnen zu: Singt dem Herrn, denn hoch erhaben ist er, Pferd und Wagen warf er ins Meer.“ (Ex 15, 20f)

In der Realität angekommen, nach drei Tagen in der Wüste, findet das Volk nur bitteres Wasser. Deshalb heißt der Ort Mara. Das Volk murrte abermals gegen Mose. „Was sollen wir trinken?“ (Ex 15,24)  Mit Gottes Hilfe verwandelt Mose das Bitterwasser in süßes, und bei der nächsten Station, Elim, findet das Volk 12 Wasserquellen und 70 Palmbäume, nach damaligen Maßstäben so etwa wie ein Aufenthalt auf Teneriffa.

Und nun, am 15. Tag des 2. Monats nach ihrem Auszug aus Ägypten, auf dem Weg zwischen Elim und Sinai wieder das notorische Murren, wenn es schwierig wird.

Mose und Aaron werden bedrängt: „Wären wir doch durch die Hand des Herrn in Ägypten gestorben, als wir bei den Fleischtöpfen saßen, als wir Brot aßen bis zur Sättigung. Denn ihr habt uns in diese Wüste herausgeführt, um diese ganze Versammlung an Hunger sterben zu lassen.“ (Ex 16, 1-3)

Ein jüdischer Ausleger (B.Jacob) schreibt: „Das Murren und Jammern der Israeliten ist in jedem Wort tadelnswert. Es ist nichts davon gesagt, dass sie, von Elim kommend, schon Hunger leiden…Aber als sie die nackte Wüste vor sich haben, sehen sie sich schon vor Hunger sterben.“ „Rabbi Josua sagte: Die Israeliten hätten sich mit den Größten unter ihnen..beraten müssen. Statt dessen erhoben sie sich gegen Mose und Aaron und begannen zu murren.“

Der jüdische Schriftgelehrte Roland Gradwohl schreibt: „Wenn nicht gleich das Notwendige zur Stelle ist, reißt bei ihnen der Geduldsfaden. Die Prüfungen, die ihnen die Zeit der Wüstenwanderung bereitet, bestehen sie nicht oder jedenfalls höchst ungenügend. Gott stellt sie auf die Probe, ob sie die Beschwerden zu tragen und das Vertrauen in Ihn und seine Hilfe zu bewahren vermögen. Doch noch viel stärker stellen sie Ihn (Gott) auf die Probe.“ (Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd 4)

Was das ständige Murren angeht, hatte meine Mutter den Spruch: „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!“ Und das hoch verehrte französische Staatsoberhaupt General Charles DeGaulle kommentierte das Leben des französchen Volkes mit dem Satz: „Mein Volk ist ein Volk von Kälbern.“

Freuen wir uns darüber, dass Gott weit weniger autoritär ist als meine Mutter und De Gaulle waren, und auch viel geduldiger.

Es ging ja nicht nur in den Geburtswehen des Volkes Israel so, dass die Vergangenheit verherrlicht wird. Wir finden das ähnlich unter älteren Russlanddeutschen, ich erlebte es unter Deutschstämmigen in Namibia, bei Ungarischstämmigen in Argentinien und bei Bayern in Berlin.

Wir alle wissen von nostalgischen Rückblicken und Erinnerungen. „Ja, in unserer Kindheit und Jugend war alles ganz anders.“ In Wahrheit gab es auch nach dem 2. Weltkrieg die liebe Not mit der Integration der Deutschen aus den Ostgebieten. Mit dem Wirtschaftswunder wurde die Kriegsschuld verdrängt. „Wir sind wieder wer.“

Plötzlich waren auch Nazi-Größen nur Opfer des Regimes. Nicht wenige kamen  unter Adenauer zurück in Amt und Würden und prägten das politische und gesellschaftliche Leben. Mann und Frau mussten sich daran gewöhnen, dass in den Kolonialländern Menschen wie Sie und ich lebten und frei werden wollten. Die Nachkriegspädagogik war höchst problematisch. Und so weiter, und so weiter.

Hören wir genau auf das, was von den Murrenden in der Wüste gesagt wird: „In der Wüstenzeit ist alles problematisch und schlecht, in Ägyptens Sklavenzeit war alles gesichert und gut.“ (Gradwohl). Verdrängt sind die Erfahrungen von auszehrender Arbeit, von Demütigung, Überwachung, von Krankheit und Tod. Wütend schallt es: „In Ägypten saßen wir am Fleischtopf, als wir aßen Brot zur Sättigung.“ Lesen wir genau, hatten die Israeliten nur Brot. Sie saßen am Fleischtopf, aber davon aßen nur die Ägypter. Die Versklavten kochten für ihre Herren das Fleisch. Das war’s.

Auch wir kennen das sehr wohl: wir können uns mit dem Lauf der Welt abfinden, Ungerechtigkeit und Willkür erdulden, Schlamperei, Lüge und Korruption von Politikern und Politikerinnen, den Zynismus der Wirtschafts- und Finanzbosse achselschulternd zur Kenntnis nehmen, weil wir es nicht anders kennen. Unsere Kirchen könnten weitaus deutlicher für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintreten. Aber da kommt man, da kommen wir plötzlich in unbekanntes Terrain. Wir wissen nicht, was dann kommen könnte. Und ob der Einsatz auch Früchte trägt. Prophetisches überlassen wir gern WissenschaftlerInnen, kritischen JournalistInnen, einer Handvoll aufrichtiger Christenmenschen, den Sufis und dem Dalai Lama. Es grassiert eine unausgesprochene, aber ungeheuer mächtige Angst vor grundlegenden Veränderungen. So, wie Mose und Aaron als Spinner, bzw. Verführer angegangen werden, ächten wir alles, was radikal ist. Obwohl das Wort schlicht bedeutet, der Sache an die Wurzel zu gehen, etwas grundlegend zu betrachten und ggfs zu verändern. Wir bemerken doch fast jeden lieben Tag die Angst von SPD und Grünen, im politischen Alltagsgeschäft ihre eigenen programmatischen Wurzeln ernst zu nehmen. Und wir versammeln uns lieber Sonntag für Sonntag zum Gottesdienst als unserer Kommune oder unserem Landkreis auf die Finger zu sehen, geschweige denn an einem Friedensmarsch nach Moskau teilzunehmen.

Letztlich ist es so wie es Mose und Aaron erging: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Letztlich wird Gott angegangen und infrage gestellt. Letztlich lieber im imposanten Imperium Ägypten einen Sklaventod sterben als sich auf den befreienden Gott zu verlassen. Lieber in der Klimakrise noch mal richtig einen drauf machen und sich benehmen wie die Menschen in Sodom und Gomorrha als Verzicht zu üben, und wenn es nur eine Einschränkung des Energieverbrauchs ist.

Denselben Wankelmut des Volkes Israel erleben wir auch beim Prozess Jesu: erst ruft die Menge „Hosianna dem Sohn Davids. Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!“ Und kurz darauf schallt es: „Kreuzige, kreuzige ihn!“

Gott weiß, dass mit moralischen Appellen allein Aufbrüche im Sande versickern. In unserem Text heißt es deshalb: „Ich habe das Murren der Söhne Israels gehört. Rede zu ihnen und sprich: Zwischen den zwei Abenden werden ihr Fleisch essen, und am Morgen werdet ihr von Brot satt werden.“ Und so geschieht es. Abends sättigen Schwärme von Wachteln aus der Gegend des Roten Meeres, und am Morgen findet das Volk nach dem Verdunsten des Taus „etwas Feines, Körniges, fein, wie der Reif auf der Erde“ (Ex 16, 12-14).

Man hat wiederholt beobachtet, dass abends Wachtelschwärme ermattet zur Erde sinken, die Beschaffenheit von Manna allerdings konnte trotz aller schriftgelehrten Spekulationen nicht mit einer uns bekannten Nahrung identifiziert werden.

Wie auch immer, die kollektive Meckerei im Niemandsland findet ein Ende durch die Hilfe Gottes. An jedem Morgen und an jedem Abend. Die Tage bekommen eine Struktur. Die Menschen müssen sammeln, rupfen und braten. Das Einerlei der Wüste wird durch geregelte Arbeit überwunden.

Ich habe diese Geschichte von Kind an geliebt. Ich habe verinnerlicht, dass Gott nichts unmöglich ist und dass er sich auch nicht zürnend verbarg, wenn ich Mist gebaut habe. „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten.“

Klar ist, wir brauchen auf dem Weg zur Freiheit Gottes Beistand, an jedem neuen Tag, an jedem Abend und in jeder Nacht. Und wir können Gottes Beistand immer neu erbitten. Die Geschichte vom Manna und von den Wachteln gibt davon Zeugnis. Kolportiere also bitte niemand den judenfeindlichen Schwachsinn, das Alte Testament, besser gesagt, die hebräische  Bibel verkörpere Gesetzlichkeit, im Gegensatz zum Neuen Testament. Die Befreiung Israels aus der Sklaverei, die Bewahrung in der Wüste und der ganze dornenreiche Weg des wankelmütigen Volkes Israel bis heute sind ein wunderbares Zeugnis der zuvorkommenden Gnade und Barmherzigkeit Gottes.

Aber Gesetz – und das heißt eigentlich und richtiger Weisung – ist damit verbunden. Ein erzieherischer Aspekt ist die Weisung: „Dies ist das Wort, das der Herr geboten hat: Einen Gomer (ein Vier-Litermaß) pro Kopf sollt ihr (beim Sammeln des Manna) nehmen, nach der Zahl eurer Seelen, jeder für die, die in seinem Zelt sind. Als sie aber mit dem Gomer maßen, hatte der, der viel gesammelt hatte, keinen Überschuss, und wer wenig gesammelt hatte, hatte keinen Mangel. Jeder hatte gesammelt nach dem Maß seines Essens.“ (Ex 16, 16-18) Jeden Tag aufs neue stillt Gott, der Schöpfer und Erhalter des Universums, die Grundbedürfnisse einer unterdrückten  Minderheit im Getriebe der damaligen Großmächte. Jeden Tag neu ist Gottes Hilfe Grund zu danken. Jeden Tag neu ist Gottes Hilfe auch für uns ein guter Grund zu danken und nach seinen Weisungen zu leben.

In den nachfolgenden Versen, die ich Ihnen zur Lektüre zu Hause empfehle,

wird das Horten von Nahrung untersagt. Und prompt vergammelt der über Nacht von einigen Unbelehrbaren gehortete Überschuss. In den Versen 4 und 5 des 16. Kapitels finden wir schon einen Hinweis auf die Sabbat-Tradition: „Am sechsten Tag aber, wenn sie zubereiten, was sie einbringen, wird es geschehen, dass es das Doppelte von dem sein wird, was sie tagtäglich sammeln.“ Das reicht auch für den Tag der Ruhe, für den Tag der Freiheit. Wie wir wissen, sind das Horten von Gütern und die Missachtung der Sabbatruhe Merkmale eines egoistischen Machtstrebens. Die Grundordnung Israels ist nach Gottes Willen egalitär. Und Gott will nicht, dass wir alles aus anderen Menschen und aus der Natur herausholen, ohne Rücksicht auf die alarmierenden Konsequenzen. „Es soll keine Armen unter euch geben!“ so Gottes Wort. Das ist die Hauptsache. Wer am Sabbat arbeiten lässt oder selbst arbeitet, missachtet den Freiraum, den Gott allen Menschen, auch den abhängig

Beschäftigten, den Arbeitslosen und den Tieren und der Pflanzenwelt schenkt. Das Anhäufen von Gütern auf Teufel komm raus bringt Herrschaft über Mitmenschen mit sich und zerstört das natürliche Gleichgewicht der Schöpfung Gottes. Der obszöne Reichtum Weniger schafft millionenfach Arme. Gegenwärtig verfügen die weltweit reichsten 8 Familien über so viel Vermögen wie die ärmeren 4 Mrd Menschen im Süden dieser Welt. Allein in unserem Land betrug das Vermögen laut Statistik im Jahr 2021 10, 2 Billionen Euro. Sie können sich ausrechen, wieviel davon Ihnen gehört. Das ist finsterstes Mittelalter. Seit anfang der 70er Jahre leben wir nicht mehr in einer Bedarfsdeckungs- sondern in einer Bedarfsweckungsgesellschaft. Mit Konsumversprechen ohne Ende, mit Tingeltangel im Fernsehen und auf den Mattscheiben der Computer und Smartphones werden wir ruhig gestellt. Derweil gehen die Fische im Meer an Plastik zugrunde. Die Äcker werden mit Kunstdünger und Glyphosat vergewaltigt, die Luft durch immer höheren Ausstoß von giftigen Gasen verseucht. Die Artenvielfalt schwindet rapide und die Gewässer werden zu Gefahrenquellen. Fast 1 Mrd Menschen hungern. Von interessierten politischen Handlangern des Kapitals wird kackfrech das Mantra der „technologi-schen Innovation“ abgespult, als würde diese die gegenwärtige Krise überwinden. „Technologische Innovation“ ist die Nebelkerze für alle, die weitermachen wollen wie bisher. Vor der letzten Wahl Putins zum Präsidenten wurden Moskauer BürgerInnen nach ihrer Meinung zur Wahl befragt. Die Antwort war oft: „Wenn es nur nicht schlechter wird.“ Ja, wären wir doch nur in Ägypten geblieben! Ist das alles ist, was uns fürs Leben übrig bleibt?!

Gott lehrt uns, für die Befriedigung der Grundbedürfnisse Sorge zu tragen und die tödliche Gier in Zaum zu halten. Sie treibt uns sonst in die Apokalypse. Gott schenkt uns Spielregeln, Leitplanken fürs Leben in einer solidarischen Gesellschaft, und das heißt: in einer solidarischen Weltgesellschaft. Deshalb beten wir mit den Worten, die Jesus uns gelehrt hat: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“

Wir lernen mit Dank und Anerkennung von der Wachtel- und Mannageschichte, dass Gott sich um unser leibliches Wohl kümmert. Und dass er uns die Furcht vor einem Weg in unbekanntes Gelände nimmt, wenn es darauf ankommt. Das mag uns also helfen, immer aufs Neue mit Bedacht die Bitte nachzusprechen, die Jesus uns gelehrt hat: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Amen