Der Holocaust – stete Mahnung zur Humanität

von Pfarrer Michael Schankweiler, Oberwinter am 27.1.2020

Der Holocaust war eine riesige Vernichtungsmaschinerie mit dem Ziel der Auslöschung des europäischen Judentums. Mit deutscher Präzision und Gründlichkeit und Untertanengeist wurden seit der berüchtigten Wannsee- Konferenz im Januar 1942 Hunderttausende von Menschen in Viehwaggons aus Deutschland und aus vielen Teilen Europas in die Vernichtungslager transportiert. Die Gesunden und Kräftigen zunächst zur Arbeit, die Alten, Kinder und Kranken direkt ins Gas verbracht und in die Verbrennung. 6 Millionen Menschen, auch Sinti und Roma, politische Gegner, Homosexuelle, zu Nummern gemacht, diese eintätowiert in die Oberarme, zu Untermenschen bzw. zu schädlichen Insekten degradiert, und mit Zyklon B ermordet. Unfassbare Bilder begegnen den Soldatinnen und Soldaten, die diese Lager befreien. Berge von Leichen, abgemagerte Halbtote, Berge mit Haaren, Brillen, Schuhen, Gebisse. – Die Pforten der Hölle hatten sich geöffnet. Erste Berichte darüber – noch mitten im Krieg – wurden von den Alliierten als Propaganda zunächst abgetan. Eine so noch nie dagewesene Brutalität und perfide Auslöschung von unvorstellbarem Ausmaß an Menschen, konnten sich sogar die Gegner Hitlerdeutschlands nicht vorstellen. Es war ein Zivilisationsbruch und Rückfall in die Barbarei ohne Beispiel. Sicher, der erste Weltkrieg mit seinen neuen Waffen und den Gasangriffen und dem Gemetzel auf den Schaltfeldern hatte schon eine neue Dimension erreicht, an dem, wie gnadenlos Krieg nunmehr geführt werden konnte.  Doch diese fabrikmäßige Massenvernichtung hatte die Welt noch nicht gesehen. Sie überbot damals – und auch noch heute – jede Vorstellungskraft. Nun war Auschwitz ja nicht vom Himmel gefallen oder aus der Hölle heraufgestiegen, sondern von Menschen erdacht und gemacht. Was ging in deren Köpfen vor? Was sagte deren Gewissen dazu? Was erlaubte ihnen dabei mitzumachen? Gab es keine Spur von Mitgefühl oder Schuld? Scham? Adolf Eichmann, der Hauptorganisator des Massenmordes, den nach Hinweisen des Frankfurter Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer der Mossad Anfang der 60iger Jahre in Argentinien aufspürte und dem in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, stritt jede größere Verantwortung ab mit dem Hinweis, „Er sei ja nur ein Befehlsempfänger gewesen und habe lediglich Befehle ausgeführt“ So einfach – so banal ist das Böse – wie schon im Paradies mit der Schlange………Nicht ich war´s, sagt Eva, ……..Es war die Schlange……….Sie sagte ich solle…….Gen. 3

Zum Ende der Weimarer Republik 1932 lebten etwas mehr als 400000 jüdische Kinder, Männer und Frauen in Deutschland. Das war weit weniger als 1% der Bevölkerung. Die Juden in Deutschland waren inkulturiert. Sie bereicherten das Geistes -und Kulturleben. Sie arbeiteten als Anwälte, Ärzte, als Staatsbeamte und in vielen anderen Berufen. Die Frauen waren gute Hausfrauen und Mütter. Sie waren Deutsche, mehr oder weniger religiös wie auch ihre evangelischen oder katholischen Nachbarn. Nicht wenige der Männer waren hochdekorierte Soldaten und Offiziere im Ersten Weltkrieg gewesen. Sie fühlten deutsch, waren Deutsche und nannten Deutschland ihre Heimat. Als die Nazis ganz legal an die Macht kamen, bereitete ihnen das Sorgen. Doch sie waren an einen jahrhundertelangen Antisemitismus quasi „gewöhnt“. In vielen Ländern, in denen sie als Minderheit lebten, seit Jahrtausenden, mussten sie mit Ausgrenzung und Feindschaft rechnen und erdulden. Auch die Hasstiraden Adolf Hitlers sahen sie als drohende Gefahr an, aber viele dachten, dass sich die Sache wieder beruhigen würde. Nach dem Motto: Es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Auch dachten sie: Deutschland ist doch das Land der Denker und Dichter. Das Land Gothes und Schillers. Es wird schon nicht so schlimm kommen. So blieben viele deutsche Jüdinnen und Juden im Land bis es zu spät war. Erinnerlich ist mir eine Videosequenz aus Jad Vaschem. Marcel Reich- Ranicki berichtete von einem jüdischen Mädchen aus dem Warschauer Ghetto. Es sagte ihm kurz vor der Deportation nach Ausschwitz: „Ich nehme meine Geige mit und spiele den Deutschen etwas von Bach vor. Dann werden sie mir sicher nichts tun. Die Deutschen sind doch so kultiviert!“ Alles Fehleinschätzungen mit tödlichen Folgen. Fromme Familienväter, Abiturienten an deutschen Gymnasien, gefüttert mit Aristoteles, Platon, Kant und Hegel, Konfirmierte und zur Kommunion gegangene Christenmenschen wurden mit Helfershelfern aus anderen Ländern zu brutalen Bestien. Freigelassen und enthemmt, scheint der Mensch auch heute noch zu allem Bösen entschlossen und in der Lage zu sein. Das Zivilisatorische in uns ist letztlich brüchig und sehr dünnes Eis.

Gekränkte und ins gesellschaftliche Abseits geratene Menschen, ohne Arbeit, ohne gesellschaftliche Anerkennung, Menschen, die sich gedemütigt auf der Schattenseite gestellt sehen, sind wohl im besonderen Maße für Feindschaft und Hass zu instrumentalisieren. Es ist bis heute allemal einfacher, Mitglieder einer Minderheit zu Sündenböcken zu stempeln und alle Unzufriedenheit auf diese zu projizieren, als dem eigentlichen Grund von Ungerechtigkeit oder Unzufriedenheit auf den Grund zu gehen und mit politischen Mitteln zu beseitigen. Wer heute Deutschland den Deutschen schreit, müsste eigentlich wissen, dass ein Deutschland ohne die Arbeitskräfte aus der Migration in Kliniken, Altenheimen, Bahnhöfen, bei der Müllabfuhr und auch in mittlerweile sehr gehobenen Berufen nicht mehr funktionieren würde. Dennoch gelingt es bis zum heutigen Tage mit einfachen, billigen Parolen, Hass zu schüren. Der Dramatiker Carl Zuckmayer berichtet in seiner Biografie den Tag des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Er beschreibt die Szenerie aus Wien wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch: „Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Ein Alptraumgemälde, Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männern – und Weiberkehlen, das tage – und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wildem, hasserfülltem Triumph. Ich hatte in meinem Leben einiges an menschlicher Entfesselung, Entsetzen oder Panik gesehen. Ich habe im ersten Weltkrieg ein Dutzend Schlachten mitgemacht, das Trommelfeuer, den Gastod, die Sturmangriffe. Ich hatte die Unruhe der Nachkriegszeit erlebt, war unter den Menschen beim Hitlerputsch 1923 auf der Straße. Aber was hier entfesselt wurde, hatte mit ahnungslosem, nationalem Idealismus nichts mehr zu tun. Nichts war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.  Hier war nichts anderes losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Hass richtete sich gegen alles durch Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Begräbnis aller menschlichen Würde.“ (C. Zuckmayer. Als wäre es ein Stück von mir. S. 71).

 

Weil der Mensch im Guten wie im Bösen so ist, wie er ist, müssen wir auch heute mit dem Schlimmsten rechnen. Die Möglichkeit eines neuen Holocaust ist nicht so weit entfernt wie wir denken. Wie vor 90 Jahren gibt es mittlerweile wieder tödliche Anschläge auf Politiker. Es gab im letzten Jahr einen Angriff eines Einzeltäters auf eine Synagoge in Halle, der die 50 Gottesdienstbesucher am Jom Kippur niedermetzeln wollte. Langsam, aber deutlich sichtbar und stetig, keimt ein neuer Antisemitismus bei uns im Land. Ich zitiere aus dem Vortrag von Abraham Lehrer, dem Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden, den er auf dem 50. Rheinischen Pfarrertag in Bonn am 11.11.2019 gehalten hat:

„2018 hat die TU Berlin eine Langzeitstudie über Antisemitismus im Netz veröffentlicht. Die Wissenschaftler stellten dabei ein „nie zuvor da gewesenes Ausmaß an judenfeindlichem Gedankengut fest. Sie sprachen von einer Omnipräsenz von Judenfeindschaft als Teil der Webkommunikation 2.0“. Das Internet muss der Studie zufolge als Beschleunigung gesehen werden für die Normalisierung von Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft. Die Befunde der Wissenschaftler der TU bestätigen sich in einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur, die ebenfalls im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Darin gaben 82% der befragten Juden an, im Internet schon Antisemitismus erfahren zu haben. Ist es dann verwunderlich, dass das Wort „Jude“ auf dem Schulhof als Schimpfwort benutzt wird? Die meisten Bürger in Deutschland, und das gilt natürlich auch für Schülerinnen und Schüler, kennen zwar keinen Juden persönlich. Dennoch werden antisemitische Vorurteile von Generation zu Generation weitergegeben. Kein Baby wird hasserfüllt geboren. Kein Kind ist aus sich selbst heraus antisemitisch, rassistisch oder sexistisch. Heutzutage wirkt jedoch nicht nur die Erziehung zu Hause auf die Heranwachsenden ein, sondern eben ganz massiv die digitalen Medien. Deshalb brauchen wir digitale Bildung. Es geht darum, jungen Menschen ein so starkes stabiles Wertegerüst mitzugeben, dass sie sowohl in der Lage sind, sich eigenständig ein Urteil zu bilden, als auch, sich damit selbst zu schützen. Wir erleben heute, dass Missgunst, Vorurteile und ja, purer Hass gegen Menschen anderer Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung wieder präsent sind und sich ausbreiten. Es gab Fälle, in denen jüdische Schüler ihre Schule verlassen mussten, weil sie verbal und tätlich angegriffen wurden. An einem Gymnasium in Berlin-Wedding beispielsweise wurde ein Schüler von seinem Mitschüler mit folgenden Worten bedrängt: “Man sollte den Juden die Köpfe abschneiden. Hitler war gut, denn er hat die Juden umgebracht!“  Ein anderes Grundproblem heute ist das Nichtwissen. Laut einer repräsentativen Umfrage der Körber-Stiftung im Jahre 2017 wissen vier von zehn Schülern nicht, wofür Ausschwitz steht. Eine 2018 veröffentlichte Studie des Nachrichtensenders CNN fand heraus, dass 40% der Deutschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren nach eigener Einschätzung „wenig bis nichts über den Holocaust wissen.“

Ich komme zum Schluss eines weiten und wichtigen Themas. Neben Bildung und Demokratie basiert unser Gemeinwesen in Deutschland auf dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft oder auch des sozialen Ausgleichs bzw. sollte sich darauf gründen. Weil es vernünftig ist. Das meint die Verteilung von Lebensgütern in dem Maße, dass große Ungerechtigkeiten im Lebensstandard und Lebensgefühl der Menschen möglichst vermieden werden und das möglichst Viele in gesellschaftliche Prozesse eingebunden sind, durch Lohn und Brot, um ein sinnvolles Leben zu führen, im Alter gesichert und dass sich niemand ausgeschlossen oder abgehängt fühlt. Denn je größer die Zahl der Unzufriedenen, umso größer das Becken für die, die solche Menschen für ihren Hass instrumentalisieren wollen. Hier muss Politik handeln. Meines Einschätzung nach gehen soziale Verwerfungen, wie Armut und Hunger, Kriegen, Völkermord, Flucht und Pogromen meist voraus. Je größer die Schere von arm und reich, bei uns und in der Welt, umso größer die Gefahr von Terrorismus und Völkermord und Hass. Carl Zuckmayer sagte 1938: „Und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt!“ Das stimmt heute nicht – noch nicht. Wir sind nicht zum Schweigen verurteilt. Heute können, ja heute müssen wir unsere Stimme gegen Judenhass, Menschenhass und Völkermord erheben. Denn der ereignet sich auch in unseren Tagen – gegen die Jeziden im Nordirak durch den IS, gegen die Rohinjas in Miramar/Burma und an manchen Orten, die uns medial verschlossen sind. Der Holocaust bleibt die stete Mahnung an uns zu Humanität und zur Bewahrung der universellen Menschenrechte. Der Politiker Gustav Stresemann bescheinigte einmal den Deutschen ein Mangel an Verantwortungsgefühl. Diesen Mangel zu beheben, ist unsere tägliche Herausforderung.  Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!