Eine ganz wunderbare Geschichte! Stimmt. Nur für manche wie der 23. Psalm schon so selbstverständlich, dass sie fast banal erscheint. Im Geist der Aufklärung konnte der jüngere Sohn als Prototyp der Emanzipation von einem autoritären Patriarchat gepriesen werden, so wie Friedrich Schiller auch den „Sündenfall die glücklichste Begebenheit der Menschheitsgeschichte, das erste Wagstück der menschlichen Vernunft“ nannte.
Bleiben wir beim Text: in Lukas 15 werden drei Gleichnisse Jesu von der Freude Gottes über das Wiedergefundene überliefert, in einem ganz konkreten religiösen und gesellschaftlichen Kontext. „Alle Zöllner und Sünder suchten seine Nähe, um ihm zuzuhören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen.“ Machen wir diese Frommen nicht zur Karikatur! Sie versuchten, die grundlegenden biblischen Überlieferungen im Kontext des römischen Imperiums auszulegen und zu leben. Das war nicht einfach. Der jüdische Glaube an den einen Gott des Himmels und der Erde wurde misstrauisch aufgenommen, weil er dem politischen wie auch religiösen Alleinherrschafts-anspruch des römischen Imperiums widersprach. Und nun isst Jesus mit Zöllnern, die im Auftrag Roms arbeiteten und allzu oft die Gebühren überhöhten, um ihren Wohlstand auf Kosten der eigenen Bevölkerung zu sichern. Worin die Sünde der erwähnten Sünder bestand, wird nicht gesagt. Sicher aber lebten sie in einer moralischen und religiösen Grauzone, die Gottes Willen missachtete, um angenehm zu leben, vielleicht auch nur, um zu überleben.
Die Frage der Frommen ist klar: wie kann Jesus, der beansprucht, Gott in Seinem Volk zu repräsentieren, zulassen, dass die Grenze von Recht und Unrecht, von Glaube und Gottvergessenheit scheinbar so relativiert wird? Dieselbe Frage war auch zur Zeit des Lukas virulent: Ist es möglich, die bei einer Christenverfolgung abtrünnig Gewordenen wieder in die Gemeinde aufzunehmen?
Aber der Reihe nach: der jüngere Sohn verlangt vom Vater vor dessen Tod sein Erbteil, ein Drittel des väterlichen Vermögens. (Dem älteren Sohn stehen zwei Drittel zu, so 5.Mose 21,17). Er will sein Leben nicht mehr in der Gemeinschaft des elterlichen Haushalts verbringen, sondern nach seinen eigenen sehnsüchtigen Vorstellungen von Glück und Freiheit. Der Vater antwortet auf das Ansinnen des Sohns nicht mit Entzug seines Erbteils. Er lässt ihn widerspruchslos ziehen.
Verstehen wir den Vater als Bild für Gott, so wird schon deutlich, dass von einem repressiven Patriarchat nicht die Rede sein kann. Wie nicht selten bei Erben von vermögenden Eltern, verprasst der Sohn in einem fernen, heidnischen Land, also weit weg vom gelobten Land Israel, sein Vermögen und gerät da in eine Hungersnot. Er findet einen einheimischen Bürger, der ihm einen Job als Schweinehirt gibt. Das ist die krasseste Entfremdung für einen Juden, die man sich vorstellen kann. Ein Jude, der zum Schweinehirten degeneriert! Noch schlimmer: selbst das Schweinefutter wird ihm vorenthalten. Hier endet das Verpfuschen eines erfüllten Lebens, welches mit der Loslösung vom Vater begann. Wir werden an Adams und Evas Entscheidung erinnert, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die von Schiller so hoch gepriesene Emanzipation von göttlicher Autorität endet im Verzocken menschlicher Hoheit. Es ist uns ja nicht fremd. Heutzutage verstehen wir mehr denn je, dass der Wunsch, autonom zu sein, in Politik, Wirtschaft, in der Freizeitwelt und im ungezügelten Konsumrausch schreckliche Konsequenzen hat, und anders als bei dem Sohn im Gleichnis vor allem für Andere. Die guten Gaben Gottes, seine wunderbare Schöpfung, werden privatisiert und die Schäden für die Volkswirtschaften und die Natur werden sozialisiert. In welcher Form auch immer: die hochmütige Entfremdung von Gott, von seinen Weisungen und Lebensordnungen, führt ins Elend und in die Verzweiflung. Insofern haben die Pharisäer und Schriftgelehrten damals wie heute Recht. Fromme Menschen bemühen sich in der Regel, nicht asozial zu leben.
Nun, in dieser Situation erinnert sich der Sohn an das Vaterhaus und die guten Lebensverhältnisse seiner Tagelöhner. Sein Entschluss, zurück zu kehren, ist von Realismus und Demut geprägt. Er will nicht als Sohn, sondern als Tagelöhner aufgenommen werden. Die Flausen im Kopf sind Vergangenheit. Und noch wichtiger ist sein reumütiger Vorsatz, seine Schuld unumwunden zu bekennen. „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ Wie oft scheuen wir uns, Schuld konkret zu bekennen! Wie oft hören oder lesen wir von Vertuschung von Schuld, sogar im Leben unserer Kirchen! Was der Sohn sich sagt, setzt er in die Tat um. Er kehrt um. Das ist rechte Buße. Er macht sich auf zum Vater.
Und er erlebt das Unfassbare, das ganz und gar Wunderbare. In der katholischen Theologie heißt das „gratia praeveniens“, zuvorkommende Gnade. Der Vater eilt ihm entgegen! So etwas ist gänzlich gegen die Etikette. Aber der Vater denkt nicht an seine Würde, weil sein Herz, sein Innerstes dem Sohn entgegen schlägt. Er vernimmt, was der Sohn dem Vater zu sagen sich vorgenommen hat. Er fühlt Mitleid, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Sein Kuss ist das innigste Zeichen der Versöhnung und der großen Liebe.
Und er ordnet ein opulentes Fest an, wie für einen Ehrengast. „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.“ Das allein zählt für den Vater, das allein zählt für Gott: die zerstörte Beziehung ist wieder zum Leben erweckt. Der Vater hätte ja auch sagen können: okay, geh zu meinem Vorarbeiter und lass dich in den Job als Tagelöhner einarbeiten. Oder noch drastischer: er hätte sich die Position des älteren Sohnes zu eigen machen können: du hast deine Chance vertan, und jetzt sieh zu, wie du zurecht kommst.
Aber nein, ein Fest wird gefeiert, spontan, noch ehe der Bruder vom Feld seiner Pflichten kommt. Himmlische Freude über den Heimkehrer! Das Entgegeneilen, der Kuss, das überbordende Fest! Liebe Geschwister: wir spüren, dass die innige Liebe des Vaters nicht nur aus Sackgassen befreit. Nein, der Vater sorgt für Schuhe, ein Festgewand und einen Ring zum Zeichen seiner Autorität und Würde. Liebe Bad Breisiger Gemeinde, die Liebe eröffnet nicht nur Zukunft. Sie macht schön. Die Liebe verwandelt Schuld und Elend in einen Vorschein des Glanzes des Reiches Gottes.
Der ältere Sohn hört die Botschaft und setzt sich in Szene als allzeit gehorsamer Sohn, der solche Regungen vom Vater nie erfahren zu haben meint. Darin finden sich Pharisäer und Schriftgelehrte wieder. Doch der Vater kommt ja auch ihm entgegen und bittet ihn um Verständnis. Und er thematisiert etwas, was der Sohn aus welchen Motiven auch immer nie angesprochen hat. „Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein.“ Der ältere Sohn hat sich Regeln im Umgang mit dem Vater unterworfen, die er sich selbst auferlegt hat, aus Konventionen gespeist. Er hat die Großzügigkeit des Vaters nicht entdeckt, weil er sich durch seine Leistungen und durch seinen Gehorsam gegenüber einem fiktiven Vaterbild legitimieren wollte.
Die Reaktion ist uns ja geläufig: wenn ich mir schon solche Mühe gebe, muss auch ein Unterschied sein zwischen Frommen und den Kindern der Welt. Die eigene Identität wird im Kontrast zu den Schmuddelkindern entwickelt. Wie der Pharisäer im Tempel: „Ich danke Gott, dass ich nicht bin wie dieser Zöllner da.“
Wohl wahr: Gott will Gerechtigkeit; er will, dass wir nach seinen Weisungen leben.
Aber nicht, um mich gegenüber Anderen zu erheben, die in die Irre gehen. In der hebräischen Bibel, im so genannten Alten Testament, ist der Ruf Gottes nach gerechtem Handeln seiner Menschenkinder elementar. Jedoch ist die von Gott geforderte Gerechtigkeit keine „Leistungsgerechtigkeit“, wie die FDP uns weis- machen will, sondern eine „Gemeinschaftsgerechtigkeit“, die sich im Umgang mit den schwächsten Gliedern der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft bewähren soll. Wir entdecken ja im gegenwärtigen kirchlichen Leben, wie sehr Scheinheiligkeit abstößt. Die im biblischen Verständnis Gerechten freuen sich über die Umkehr von Menschen, die in die Irre gegangen sind. Sie versuchen, sich auf den Dialog mit Gestrandeten einzulassen. Die Selbstgerechten können sich, wie gesagt, bedauerlicherweise nicht ohne die Verachtung „von denen da“ wohlfühlen.
Ich gebe zu: es ist aufreibender, wie der Vater im Gleichnis zu leben als stur nach festen Regeln durchs Leben zu ackern. Aber andererseits sind da auch immer wieder die kleinen und großen Freudenfeiern, wenn einer tot war und wieder lebt, wenn eine verloren war und gefunden wurde.
Wenn wir an die Vielen denken, die unsere Gemeinden verlassen, überkommt uns Wehmut. Vielleicht sind wir auch zornig über konsumorientierte Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit. Mir ist im Lauf der letzten Jahre deutlich geworden, dass die klerikalen Werbemanöver, die sich einbetten in das Lächeln der 300.000 Influencerinnen und Influencer in Deutschland, nicht zum Ziel führen. Wir finden die Verlorenen nur durch liebevolle Begegnungen und aufmerksames Zuhören im Alltag unserer Gemeinden wieder. Weder fundamentalistische Rechthaberei noch pfiffige Werbeslogans führen zum Ziel. Töchter und Söhne des väterlichen und mütterlichen Gottes begegnen auf dem Weg in der Nachfolge Jesu Christi immer wieder Menschen, die durch liebevolle Zuwendung aufmerksam werden auf den Segen des Gemeindelebens und auf die Freude der Gemeinschaft mit Gott. Wir verwischen nicht die Grenzen von Gut und Böse, von Recht und Unrecht. Aber wir arbeiten mit Gottes Hilfe daran, Verlorene heim zu holen oder ihnen eine neue Heimat zu geben. Gerade wenn wir uns auf den Weg machen, um Verlorene zu suchen, erfahren wir den Segen Gottes, der nicht preisgibt das Werk seiner Hände.