Predigt über Lukas 13, 10-17 im Gottesdienst am 18.08.2024 in der Ev. Kirchengemeinde Oberwinter (Pfr. i.R. Wilfried Neusel)

Liebe Geschwister im Vertrauen auf göttliche Überraschungen,

die Geschichte beginnt unspektakulär. Jesus, der Gesandte Gottes, lehrt am Sabbat in einer der Synagogen. Er lehrt also an dem Tag, der in der antiken Weltgeschichte einzigartig war. Am Tag der Freiheit für alle Geschöpfe Gottes, für Menschen, Tiere und die Natur. Der von Gott gebotene Sabbat vollendet die Schöpfung und weist darauf hin, dass wir Menschen uns nicht durch Arbeit, nicht durch Leistung und Ausbeutung, sondern durch das göttliche Geschenk der Ruhe und der Begegnung mit Gott definieren sollen. Besonders Sklaven und abhängig Beschäftigte, Frauen und Kinder wussten und wissen diesen Tag der Vollendung zu würdigen. Wieviel aufrechter und gesünder könnten Milliarden Menschen auf unserem Planeten leben, insbesondere Frauen und Kinder, wenn sie wenigsten einen Tag der Erholung und der befreienden Gemeinschaft mit Gott hätten!

Will sagen: der Sabbat, ja die ganze Sabbat-Tradition, das Sabbatjahr und das Jobeljahr sind eine wunderbare Wegweisung Gottes, genährt von der Erfahrung der Befreiung des in Ägypten versklavten Volks Israel.

Wer könnte also authentischer in der Synagoge lehren als der Messias Gottes?!

Und da war eine Frau, die hatte seit 18 Jahren einen Geist, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Es gibt Spekulationen darüber, ob eine so offensichtlich kranke Frau überhaupt am Sabbat eine Synagoge betreten durfte. Fakt ist: Jesus sah sie, rief sie herbei und sagte zu ihr: „Frau, du  bist von deiner Krankheit erlöst.“  Schon in der griechischen Antike wurden Heilungserzählungen von Wirbelsäulen-Verkrümmungen ausführlich beschrieben und diskutiert. Hippokrates beschreibt die möglichen somatischen und psychosomatischen Ursachen und Therapien einer Wirbelsäulenverkrümmung. Und er lässt die therapeutischen Sackgassen und Scharlatanerien nicht aus.

In der modernen Medizin kennen wir psychische Ursachen einer Skoliose, aber auch die Erkrankung an Rheuma, Bechterev oder Osteoporose. Und auch heute finden wir in den sozialen Medien Heilungsversprechungen, die oft nur in tiefere Enttäuschung führen.

Viel naheliegender scheint mir eine in der damaligen Zeit häufige physische Überforderung der Frau zu sein. Feuerholz und schwere Ernte-Säcke vom Feld nach Hause tragen, Getreide zerstampfen und Wasser von weit her schleppen können aufrechte Frauen zu Krüppeln machen. Ob da auch ein böser Geist beteiligt war, der sie unterdrückte, wage ich nicht zu beurteilen. Wenn ein Geist im Spiel ist, dann am ehesten der „Zeitgeist“, der Frauen zu Arbeitstieren degradierte.

Jesus stellt keine Diagnose. Er sieht sieht die Frau, ruft sie zu sich und spricht sie an: „Frau, du bist von deiner Krankheit erlöst.“ Wir wissen, wie kostbar es ist, persönlich gesehen und angesprochen zu werden. Aber das ist wohl nicht vergleichbar mit dem Augenblick der totalen Befreiung, den diese seit 18 Jahren leidende Frau erlebt. Jesus legt ihr dazu seine Hände auf. Was das bedeutet, kennen wir ja z.B. von der Osteopathie. Aber was da geschieht, ist nicht eine Behandlung für 95 Euro/Stunde, schon gar kein esoterischer Hokuspokus. Wir erfahren hier von einer göttlichen Intervention, von einem göttlichen Befreiungsakt. Im Unterschied zu mancherlei therapeutischen Bemühungen in der Antike sind die Heilungen Jesu ein Vorschein der neuen Welt Gottes. Lukas überliefert: „Wenn ich jedoch durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt (Lk 11, 20).“ Hier werden die Herrschaftssysteme und Ideologien unserer Welt infrage gestellt und immer wieder neu überwunden.

Liebe Geschwister, ich sinniere nicht über eine schöne Geschichte vor 2000 Jahren. In Afrika und Asien habe ich erfahren, dass diese Befreiungstaten Gottes immer noch und immer wieder geschehen. Chinesische Christinnen und Christen in ländlichen Gebieten bieten Heilungsgottesdienste für Menschen an, die wegen der schwachen medizinischen Infrastruktur keine Hilfe erfahren. Das Geheimnis der wunderbaren Heilungen lässt die Gemeinden stetig wachsen. Der Protestantismus ist auf diese Weise zur am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaft in China geworden.

In Afrika erfahren viele pfingstkirchliche Gemeinden Befreiung durch Exorzismusund Heilungsgottesdienste. Gewiss: Scharlatanerie und Machtmissbräuche sind dabei nicht ausgeschlossen. Tatsache jedoch ist, dass die pfingstkirchlichen Bewegungen mittlerweile mehr Gemeindeglieder haben als alle vom Weltrat der Kirchen repräsentierte.

Ich habe gelernt, dass im deutschen Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts alles versucht wurde, um die  „irrationalen“ Jesusgeschichten zu entmythologi-sieren und wissenschaftlich zu erklären. Und dann schaue ich mir den Kulturprotestantismus in seiner geschichtlichen Entwicklung an und stelle fest, dass er im 20. Jahrhundert blindgläubig den „Mythos des 20. Jahrhunderts“ (Alfred Rosenberg) mit seinem Lügen-Messias  Adolf Hitler zur Religion machte.

Für mich folgt aus der Meditation dieser Wundererzählung: lasst uns offen sein für heilsame Überraschungen Gottes! Vertraut Euch Ihm an. Luther sprach ja vom Menschen ganz allgemein als „homo incurvatus in se ipse.“, als einem in sich selbst verkrümmten Wesen. Auch abgesehen von einer so sichtbaren Verkrümmung wie bei der Frau finden wir an uns und in uns Beeinträchtigungen, die uns das Leben schwer machen, ja manchmal auch verleiden.

Unsere Gottesdienste sind sehr nüchtern geworden. Was würde geschehen, wenn eine oder einer von uns jetzt ganz persönlich um Gottes Hilfe in schwieriger oder auswegloser Situation bäte? Ich stelle mir Ihr Unbehagen vor. Vielleicht kommt da auch der Gedanke auf, dass dieses Gemeindeglied nicht ganz bei Trost ist. Ja, und dann? Ich denke dankbar an den Frieden und das Glück derer zurück, denen ich vor ein paar Tagen in Namibia bei einem ganz persönlichen Segen die Hände aufgelegt habe.

Die Frau, ohne Namen, Alter, Herkunft und Verwandtschaft im Fokus der liebevollen Befreiung Gottes! Und sie richtete sich auf und pries Gott. Die Befreiung von soviel Qual öffnet das Herz und weitet die Brust. Sie ist ein neuer Mensch. „Lobe den Herrn meine Seele und alles was in mir ist seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der all deine Schuld vergibt und alle deine Krankheiten heilt..(Ps 103).“  In den Psalmen finden wir die vielstimmige Antwort des Volkes Israel auf die vielfältigen Befreiungstaten Gottes. Ähnlich ging es mir im September 2015, nachdem ich vom Bann des Alkohols erlöst wurde. Unter Tränen bin ich durch die Weinberge Ahrweilers gegangen, habe die Luft und die Farbenpracht und die Kraft zu gehen gespürt. Vielleicht haben Sie in Ihrem Leben auch solche befreienden Erfahrungen gemacht. Ich fände es durchaus angemessen, wenn wir uns gegenseitig davon erzählten, sowohl von unserer Not als auch von unseren Befreiungserfahrungen.

Der Synagogenvorsteher ist aufgebracht über Jesu Werk am Sabbat und verteidigt die altehrwürdige Sabbat-Tradition. „Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten Tag ruhen!“ Dahinter verbirgt sich die traditionelle Theologie, dass im Halten des Sabbat alle Gebote zusammengefasst sind und kulminieren. Und die Vorstellung war, dass je strikter ich die Sabbatgebote und -verbote halte, ich Gott umso näher bin. In einer Zeit sozialer Verwerfungen, politischer Unterdrückung durch die Besatzungstruppen Roms und konkurrierender hellenistischer Propaganda, in einer Zeit der Mysterienkulte, die fernab der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwänge individuelle Erlösung anpriesen, war die Treue des Judentums zum Sabbat-Gebot aller Ehren wert. Wir finden bei Jesus auch keine Sabbat-Polemik.

Wir finden die ganz und gar überraschende Gegenwart Gottes im Hier und Jetzt!

Wie von der Antrittspredigt in Nazareth zu hören war, stellt Jesus, Gottes Messias, sich in die prophetische Tradition des ersten Testaments: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, zu verkünden das Gnadenjahr des Herrn.

(Lk 4, 16-21)“ Jesu Exorzismus, seine Heilungen sind Zeichen der Nähe Gottes. Alle seine Wunder und seine Weisungen, besonders in seiner Bergpredigt, sind – wie wir heute sagen – „direkte Aktion“, die Raum schafft für neues Leben.

Der Synagogenvorsteher sieht seine Aufgabe darin, der Erinnerung an vergangene Befreiungserfahrungen treu zu bleiben. Jesus zeigt durch sein Wirken eine neue Perspektive: „Das Reich Gottes ist in eurer Mitte.“ Jesus stellt die Erinnerung in den Horizont der neuen Welt Gottes. Wir finden bei ihm keine Gesellschaftsanalysen, keine Erklärungen des Elends. Wir finden bei ihm keine Zukunftsprognosen oder Befreiungstheorien. Wo er ist, wo er angerufen wird, wo ihm vertraut wird, da zerbirst die analytische Logik. Das Leben der frühen Christenheit zeugt trotz aller Anfeindungen und auch trotz aller gemeinde-internen Irrungen und Wirrungen, dass mitten im Alten Neues wurde. Und das Leben in der Ökumene heute zeugt davon ebenfalls. Inmitten niederdrückender Herrschaftsansprüche und Lebensverhältnisse wachsen Gemeinschaften im Geist der Hoffnung und der Solidarität.

In der Auseinandersetzung mit dem Vorsteher und weiterer Gegner in der Synagoge ist Jesus, der Messias Gottes, wieder der Lehrer: „Ihr Heuchler, bindet nicht jeder von euch seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese aber, eine Tochter Abrahams, die der Satan volle 18 Jahre in Fesseln gehalten hat, musste sie nicht am Sabbat von dieser Fessel losgebunden werden?“ Hier ist die namenlose Frau als Tochter Abrahams gewürdigt. Die beißende Logik des Vergleichs mit den Tieren beschämt die Gegner Jesu. Wenn der Sabbat ein Geschenk Gottes ist, ein Geschenk der Freiheit, dann wird durch die Heilung der Frau die Bedeutung des Sabbat doch aktualisiert. Die Frau wird von der qualvollen Anonymität und den Mühen ihres Leibes befreit und in die Gemeinschaft der Glaubenden hineingenommen. Es heißt doch in der rabbinischen Überlieferung, dass der Sabbat 1/60 des Reiches Gottes ist.

Alles Volk freute sich über die herrlichen Taten, die durch Jesus geschahen.