Predigt über 1 Kor 14, 1-12

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis (13.6.2021) zu 1 Kor 14, 1-12 in der Evang. Kirchengemeinde zu Oberwinter, gehalten von Pfr.i.R. Wilfried Neusel

 

Liebe Gemeinde,

Ich werde abgeholt. Die Mitarbeiterin eines christlichen Gästehauses in Kapstadt hat mich zum Abendgottesdienst nach Hannover Park eingeladen, einen so genannten „nicht-weißen Stadtteil“. Wir fahren mit meinem Bulli. Bei der Ankunft – es ist schon dunkel – umstellen vier junge Männer den Wagen. Wie ich nach dem Gottesdienst erfahre, haben sie den Wagen bewacht. Mit zerstochenen Reifen kommt man schlecht wieder weg.

Etwa 120 zumeist junge Frauen und Männer sind in einem sehr schlichten Raum versammelt. Zunächst das uns Bekannte: Begrüßung, Eingangsgebet, Lesung und Auslegung. Ich spüre: die Anwesenden sind total versunken in die geistliche Atmosphäre des Gottesdiensts. Und in den Gebeten wird kindlich unverschämt die Geistkraft Gottes zelebriert. Es herrscht Ordnung, zweifellos. Die den Gottesdienst leiten, leiten mit großer Autorität. Aber dann, beim Fürbittengebet, explodieren die Gemeindeglieder. Da ist ein Stöhnen und ein Raunen, ein Jubeln und Lachen, Schnattern, Brabbeln, Murmeln, Schreien. Verstehen konnte ich überhaupt nichts.

Gegen Ende des Gottesdienstes noch ein Exorzismus. Eine ältere Dame wird von ihren Verwandten in den Kreis der Ältesten und des Exorzisten geführt. Sie kniet offensichtlich desorientiert nieder. Etliche liturgische Beschwörungsformeln und dann das „göttliche“ Kommando des Exorzisten: „You evil spirit of Satan: in the name of Jesus I command you to leave this women, in  the Name of Jesus!“ Ich weiß nicht, was aus der Frau geworden ist. Immerhin lernte ich eindrücklich, dass es noch andere Weisen, Gottesdienst zu feiern gibt als z.B. hier in Oberwinter.

Kein Zweifel, pfingstkirchliche und charismatische Gemeinden leisten für arme und geplagte Menschen, was hier die Psychologen versuchen. Sie schaffen einen sozialen Zusammenhalt, der an die Stelle einer in vielen Ländern des Südens maroden staatlichen Verwaltung tritt. Verfehlungen von Gemeindegliedern werden unerbittlich geahndet. Frauen bereichern Gottesdienst und Gemeindeleben nicht minder als Männer. Das ist auch recht und billig. Der Satz im Kapitel unseres Predigttexts, dass die Frauen in der Gemeindeversammlung schweigen sollen, ist nachweislich später in den Text des Paulus eingefügt. Es herrscht ein Geist der Hoffnung und der Freiheit. Das war ende der 80er Jahre während meines Diensts in Namibia. Die Apartheid knechtete Farbige und Schwarze. Korruption der weißen Elite allenhalben.

2011 organisierte ich eine Tagung in der Missionsakademie Hamburg. Ich hatte für die Konsultation zum Thema „Mission und Entwicklung“ 16Theologinnen und Theo- logen aus Afrika eingeladen, mehrheitlich RepräsentantInnen von Pfingstkirchen.

Die Frage war, ob wir als „Evangelischer Entwicklungsdienst“ mit Partnern kooperieren können, die Mission und Entwicklung als untrennbares Ganzes betrachten.

Die Bundesregierung zahlte dem EED damals mehr als 100 Mio Euro jährlich, mit der Maßgabe, bei Projektfinanzierungen religiöse und weltanschauliche Neutralität zu wahren. Die Mitarbeitenden des EED lebten im Übrigen immer noch mit dem Wahlspruch: je weniger religiöser Einfluss, umso effizienter die Projektarbeit.

Bei der Konsultation kam heraus, dass die pfingstlichen Kirchen bis in die Universitätslaufbahn aktiv waren und dass alle so genannten Missionskirchen, sogar die orthodoxen, von charismatischem Geist durchdrungen waren. Die Abwehrkämpfe der Katholiken und Reformierten waren gescheitert. Seit 30 Jahren gibt es Mega-Gemeindezentren mit 20.000 und mehr Sitzplätzen. 2 Quadratkilometer Parkplatz für die Nobelschlitten natürlich daneben. Und es war undenkbar, Mission und Entwicklung zu trennen. Das Motto: nur gläubige Menschen tun etwas für die Ent-wicklung der Gemeinschaft und des Staates.

Mit nicht zu überbietendem Selbstbewusstsein sagte mir ein pfingstlicher Theolo-gieprofessor aus Ghana, in zwanzig Jahren fände ich in afrikanischen Leitungs-positionen nur noch Mitglieder charismatischer bzw. pfingstkirchlicher Gemeinden.

Was wirkt, ist die Verbindung von stammesübergreifender Gemeinschaft und der traditionellen afrikanischen Vorstellung vom geistdurchwalteten Kosmos. Die bösen Geister, die den Kongo, Nigeria und andere Staaten beherrschen und die Regie-rungen zu kriminellen Banden degradieren, können nur durch den Geist Gottes überwunden werden. Dazu das – oft nächtelange – Gebet der Gemeinden.  Rationale soziologische oder politologische Analysen werden belächelt.

Das Tragische ist nur, und nun nähere ich mich dem Apostel Paulus: seit den 80er Jahren sind die meisten pfingstlichen Gemeinden der Gedemütigten und Verachteten – heute noch in Chile und Südafrika zu finden – mittelständischen neo-pfingstlerischen Gemeinden gewichen. Die haben keine Sorgen ums Überleben, sondern leben mit dem „göttlichen“ Versprechen des Prosperity Gospel, des Wohlstands- evangeliums. Ein Kollege im Entwicklungsdienst der Lutherischen Kirche Tansanias wechselte seinen Job, wurde Manager in einer Pfingstkirche und ist heute Millionär. Die mittelständischen Pfingstler in Lateinamerika und in Afrika haben big business aufgebaut, Radio- und Fernsehanstalten, soziale Netzwerke, Versicherungskonzerne und Bünde christlicher Geschäftsleute. Die große Gefahr in diesen Kirchen und Bewegungen ist, dass sie sich mit dem Heiligen Geist identifizieren und meinen, sie könnten über ihn verfügen. Und wer das tut, knechtet und vergewaltigt auch Menschen. Nicht selten werden mafiöse Strukturen entwickelt, um Erfolg vorzuweisen.

Wir kennen das Disaster mit dem Pfingstler Bolzonaro, wir haben es mit dem Präsidenten Zuma in Südafrika erlebt, mit Regierungsmitlgliedern in Sambia und Honduras. Wo die charismatische Erneuerung vom Establishment besetzt wird, geht es nicht anders zu als bei den Evangelikalen in den USA. Das böse Geheim- nis ist, dass Pfinstler keinen Widerspruch dulden, weil sie ja vom göttlichen Geist durchdrungen und so im Besitz der unfehlbaren Wahrheit sind. Also wird kein Irrtum zugegeben, keine andere Meinung zugelassen. Das zweite große Übel ist – und damit komme ich zum heutigen Predigttext –: die angeblich so Frommen drehen sich um die eigene Achse und verachten die, die es noch nicht zu Wohlstand oder gar Reichtum gebracht haben. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „asozial“.

Von solchen Menschen gab es in der Gemeinde von Korinth wohl einige. Nicht die Mehrheit, aber Ton angebend. Wenn sie sich in Glossolalie ergehen, im Zungen-reden, geht es nicht mehr um den Aufbau der jungen Gemeinde, sondern um Verzückung, um die Pflege des geistlichen Wohllebens.

Passend dazu, was Paulus im 12. Kapitel des 1. Korinther-Briefs schreibt: „Darum tue ich euch kund: Keiner, der im Geist Gottes spricht, sagt: Verflucht sei Jesus, und keiner vermag zu sagen: Herr ist Jesus!, es sei denn im Heiligen Geist.“ (V3)

Warum wohl gab es bei Gemeindegliedern den Schlachtruf „Verflucht sei Jesus“?

Ich finde nur diese Antwort: alles Irdische mit seinen Herausforderungen und Notlagen wird als nichtig abgetan. Unsere geschöpfliche Sozialität ist passé. Also ist auch der irdische Jesus ein- um  mit Goethe zu sprechen – peinlicher Erdenrest.

Deshalb konnten die Wohlhabenden, die Andere für sich arbeiten ließen, auch (11,21) beim Abendmahl schon satt und betrunken sein, während arme Gemeinde-glieder nach der Arbeit hungrig dazukommen.

Wenn es um die biblischen Grundlagen der charismatischen Bewegung und der Pfingstkirchen geht, werden wir zweifellos bei Paulus fündig. Röm 8,26: „Der Geist selbst vertritt für uns ein mit wortlosen Seufzern.“ In 2 Kor 12 berichtet er von sich (aus Bescheidenheit wohl in der 3. Person!), er sei ins Paradies entrückt worden und habe „unsagbare Worte gehört, die kein Mensch aussprechen darf.“

Wenn es aber um das Leben der Gemeinde geht, erfahren wir in ganz differen-zierter Weise vom Wirken des Heiligen Geistes (1 Kor 13, 27ff): „Ihr aber seid der Leib des Christus, als Einzelne aber Glieder. Und als solche hat euch Gott in der Gemeinde zum einen als Apostel eingesetzt, zum anderen als Propheten, zum dritten als Lehrer.“ Dann kommen die Wunderkräfte, die Heilungsgaben, die Hilfeleistungen, die Leitungsaufgaben, verschiedene Arten von Zungenrede.

Und das alles mündet in den Aufruf des Paulus,nach den Gaben „Glaube, Hoffnung und Liebe“ zu streben, weil alle Geistesgaben – die Charismata – aufhören, zunichte werden können, auch Prophetie, das Zungenreden  und die umfassendste Erkenntnis. Glaube, Liebe und Hoffnung sind die grundlegenden Beziehungen zu Gott und zueinander. Das schützt auch vor dem Missbrauch der Engelszungen. Ohne Liebe tönendes Erz, lärmende Zimbel (1 Kor 13,1).

In diesem Zusammenhang nun unser Predigttext (1Kor 14,1-12; Lesung nach der Zürcher Bibel):

„Bleibt auf dem Weg der Liebe! Strebt nach den Charismen, vor allem aber danach, prophetisch zu sein. Wer prophetisch redet, spricht zu Menschen: Er/Sie erbaut, ermutigt, tröstet. Wer in Zungen redet, baut sich selbst auf; wer aber prophetisch redet, baut die Gemeinde auf. In Zungen reden ist ok, aber vor allem prophetisch reden. Wer das tut, ist größer als wer in Zungen redet, es sei denn, es werde übersetzt zum Nutz und Frommen Aller.“

Generalnenner ist der Aufbau der Gemeindeglieder. Glossolalie ohne Übersetzung lässt den Redenden oder die Redende als Fremde in der Isolation und die Gemeinde gleichermaßen. So resümiert Paulus. Und im nächsten Textabschnitt kann er sich nicht verkneifen zu sagen: „Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle in Zungen rede, aber in der Gemeinde will ich, um andere zu unterweisen, lieber fünf Worte mit meinem Verstand sagen als tausend Worte in Zungen.“ (14, 18f) Was heißt das nun: ein staunder Dank für Gottes Geisteskraft. Sie durchdringt alle und alles, tröstet, leitet in alle Wahrheit und erneuert. Wir sind angewiesen auf charismatische Menschen, dürfen es selbst sein. Aber wer glaubt, eins zu sein mit dem Heiligen Geist, missachtet die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf. Das ist übrigens auch die Kardinaltäuschung der Esoteriker jedweder Couleur. Ich kann über das Wirken Gottes nicht verfügen. Prophetie ist angesagt, zur Erbauung der Gemeinde.

Nun mögen Bibelkundige unter Ihnen einwenden, in der Geschichte der Prophetie seien durchaus exstatische Begleiterscheinungen zu finden. Samuel sagt dem designierten König Saul, er werde in der Stadt Gibea auf eine Schar von Propheten stoßen, die mit musikalischem Tamtam und in Exstase Saul anstecken und ihn in einen anderen Menschen verwandeln würden. Deshalb in Israel das geflügelte Wort: „Ist auch Saul unter den propheten?“ (1 Sam 10)

Aber Sie wissen auch, dass die so genannten klassischen Propheten sehr nüchtern denken, reden und handeln. Auch, wenn sie Visionen hatten. Wie Paulus sagt: um aufzubauen. Dieses Aufbauen kann auch sehr anstrengend und schmerzhaft sein, sogar lebensgefährlich. Denn die prophetische Botschaft ist, um mit Paulus zu sprechen, nichts, „wonach uns die Ohren jücken“. Prophetische Rede heißt, hier und jetzt mit dem Wort Gottes unsere Realität zu konfrontieren. Damit meine ich nicht nur die in Oberwinter und Remagen.

Und das ist für Volkskirchen, auch für die Evangelische Kirche im Rheinland, ein Problem. Meist herrscht die Devise: „allen wohl und niemand weh“. Ich fragte nach der gelungenen Denkschrift unserer Kirche zum Thema „Frieden“ unseren ehema-ligen Präses Rekowski, ob denn jemand von der Kirchenleitung inzwischen beim Düsseldorfer Waffenkonzern „Rheinmetall“ vorstellig geworden sei, um über Rüstungskonversion zu reden. Verlegen meinte er, man müsse das mal in Angriff nehmen. Rheinmetall hat weltweit 39 Waffenfabriken errichtet und exportiert Waffen in Milliardenhöhe, auch in krisengebiete. Ähnliches zu meiner Zeit in der Kirchen-leitung, als es um die Förderung der „Initiative gegen Bayer-Gefahren“ ging. Ich wollte angesichts der vielen skandalösen Praktiken von Bayer die Initiative offiziell fördern. Da wurde ich aber vom Präses und vom Vizepräsidenten ins Gebet genommen. 29.000 Kirchenmitglieder würden ihr Gehalt von Bayer beziehen, und das solle ich bitte nicht gefährden. Bei einer anderen Kirchenleitungssitzung, wo man sich ausweinte ob der „Reichenschelte“ vergangener Jahrzehnte und nach neuen Ansätzen der Versöhnung mit den Reichen suchte, erwähnte ich Minister-präsident Steubers Bemerkung, die Kirche habe ihre Daseinsberechtigung nur noch als sozialer Kitt der Gesellschaft. Bevor ich meinen kritischen Kommentar dazu los werden konnte, sagte unsere Vizepräses mit großem Nachdruck: „Jawohl, wir sind der soziale Kitt der Gesellschaft.“

Unsere Kirche hat auch eine wunderbare Denkschrift „Wirtschaften für das Leben“ erarbeitet und von der Synode autorisieren lassen. Nichts davon in der Öffentlich-keit. Und ich sage traurig: auch nichts davon in unserer Gemeinde, in unserem Kirchenkreis. Unsere Kirche handelt „priesterlich“ und überlässt die prophetische Botschaft kirchlichen Initiativen, säkularen Nichtregierungsorganisationen und katholischen Orden. Wir sind langweilig und müssen uns über Mitgliederschwund nicht wundern.

Als wären wir nicht täglich mit den Vernebelungsstrategien unserer Regierung und der Kommission der Europäischen Union konfrontiert, die alles daran setzen, unsere Demokratie „marktgerecht“ zu gestalten. Der Ausdruck ist von Frau Merkel. Der Schrei nach dem Ende der Ausbeutung von Abermillionen Kindern in der Landwirtschaft, im Bergbau und in der Textilproduktion wird übertönt mit dem neuen „Lieferkettengesetz“. Bei genauem Hinsehen ist es eine Luftnummer. Fast alles, was auf den Schrei von jungen Menschen nach Klimagerechtigkeit und nachhalti-gem Wirtschaften geantwortet wird, ist eine durch den unverschämten Lobbyismus schön drapierte Mogelpackung. Eine CO2-Steuer bedeutet nicht, dass weniger Gift in die Atmosphäre gelangt. Die Steuer ist moderner Ablasshandel. Vor kurzem wurde eine interne Studie von Nestlé veröffentlicht, dass 60% ihrer Produkte ungesund seien. Das heißt vor allem, dass die im Süden unserer Welt aus Geldnot gekauften Instant-Produkte und die gern gesehenen Süßigkeiten der Firma unzäh-lige Frauen, Männer und Kinder in die Fettleibigkeit treiben, mit den entsprechen-den volkswirtschaftlichen Belastungen wegen der medizinischen Aufwendungen. Bei uns in Oberwinter wird Fleisch von einer Firma verkauft, die nicht besser  ist als die von Herrn Tönnies. Obwohl alle wissen, dass Massentierhaltung eine milliardenfache Sünde ist. Wann, liebe Gemeinde, beschäftigen wir uns mal mit den irdischen Grundlagen unseres Lebens, im Licht und und geleitet von Gottes Wort?

Unsere Gemeinden werden nicht durch frommes Konsumieren aufgebaut, sondern durch Worte und Taten, die den Menschen dienen, allen Menschen, nicht nur unseren Gemeindegliedern. Unsere Reformatoren, insbesondere Johannes Calvin, sind da immer noch leuchtende Vorbilder. Die Gräber vergangener Propheten zu tünchen, können wir unserem Bundespräsidenten überlassen. Es kommt auf prophetische Rede und prophetisches Handeln hier und jetzt an.