Predigt über 1. Joh 1,1-4 am 2.1.2022 in Oberwinter, von Pfr.i.R. Wilfried Neusel

Liebe Gemeinde, die Gnade Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
„Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir geschaut und unsere Hände berührt haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und unsere Hände berührt haben betreffs des Wortes des Lebens – und das Leben ist offenbar geworden, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbar gewor- den ist. Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Und die Gemeinschaft aber, die wir haben, ist eine mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vervollkommnet sei.“
Wenn Sie, liebe Geschwister, den 1. Johannesbrief einmal ganz lesen, werden Sie vermutlich, wie auch ich, von einer wuchtigen Sprödigkeit erfasst werden, obwohl Luther meinte, es sei ein außergewöhnlich schöner Text. (Einl. zur Vorlesung) Gedankengänge wiederholen sich. Der Briefschreiber bringt den AdressatInnen so mit heiligem Ernst und mit großem Nachdruck die Essentials christlichen Glaubens nahe. Was ist der Grund dieser Anstrengung? Nun, der Verfasser spricht im 2. Kapitel, im Vers 18 von „vielen Antichristen“. Für ihn ist es ein Zeichen, dass die letzte Stunde naht. In V. 19 heißt es, dass sie „aus unserer Mitte hervorgegangen sind“. Martin Luther, der in seiner Vorlesung zum 1. Johannesbrief die „Größe des Verfassers“ überschwänglich preist, aktualisiert die Botschaft und spricht vom biblischen Kampf gegen die Schwärmer. Für Luther sind sie entweder linksradikale Aufwiegler wie Münzer oder esoterische Leugner des irdischen Lebens mit allen seinen Sorgen und Nöten. In Zwickau und anderen Orts traten Propheten auf, die allein die Erlösung der Seele für wichtig hielten. Die Sakramente und das „äußere Wort der Schrift“ verachteten sie.
In der Tat geht es genau um diesen Punkt, um den Kern der neutestamentlichen Botschaft: die Leiblichkeit Gottes. Gott offenbart sich in und durch Jesus Christus, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Und das wollten die Gegner der johanneischen Gemeinden nicht mehr wahr haben. Ging es im Vorwort, im Prolog, des Johannesevangeliums um die Betonung der göttlichen Natur Jesu Christi, so im Vorwort des 1. Johannesbriefs um die Betonung der Menschlichkeit Gottes. „Gott tritt nie anders als im Menschen Jesus auf den Plan.“ (Wengst).
Zunächst aber geht der Verfasser des 1. Johannesbriefs mit dem Evangelisten Johannes auf „den Uranfang“ der Offenbarung zurück, der unermesslich weit vor dem Anfang der Kirchengeschichte geschieht. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott.“ Er bekennt wie der Evangelist den unermesslich weiten Horizont und die unermessliche Tiefe des göttlichen Befreiungs- und Vollendungswerks.
Dann aber wird die sinnliche Wahrnehmung der Offenbarung betont: „was wir – die ersten und autorisierten Zeugen gehört haben, ja noch mehr: was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und – noch handfester! – was unsere Hände berührt haben betreffs des Wortes des Lebens.“ Die junge Frau Maria und Josef, aus dem einfachen Volk, die Hirten, arme Schlucker ohne das Recht, als Zeugen auszusagen,die Geburt Jesu in einer Futterkrippe, die Heilungserfahrungen niedergeschlagener Menschen aus dem von den Römern unterdrückten Volk, die wunderbaren Predigten Jesu, seine Verklärung auf dem Berg, das Kreuz und das leere Grab, die Begegnung des Thomas mit dem Auferstandenen, seine Hände in den Wundmalen Christi: alles sehr sinnliche Erfahrungen Gottes.
„Das Leben ist offenbar geworden, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbar geworden ist.“ Offenbar geworden – gesehen – bezeugen – verkündigen – verkündigen wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns!
Liebe Gemeinde, was sich in der Menschwerdung Gottes ereignet, wird auch von Menschen, von Zeuginnen und Zeugen, ganz menschlich und doch geisterfüllt, weitergegeben. Die Inkarnation Gottes setzt sich in der Geschichte seiner Kirche fort. Das Ziel: Gemeinschaft mit denen, die Christus bezeugen und seine Worte unter den Bedingungen dieser Welt weitersagen.
Und ganz weihnachtlich: unsere Gemeinschaft ist eine mit dem Vater und dem Sohn Jesus Christus. So weihnachtlich irdisch! So lächerlich für die Gegner des Verfassers! Wir wissen aus der kirchengeschichtlichen Forschung, dass es eine mächtige geistesgeschichtliche Strömung gab: die Gnosis, das heißt: Erkenntnis oder Wissen. Die Ausdrücke sinnlichen Wahrnehmens sind nur Illustration dessen, was mit der geistigen Erkenntnis Gottes, die zugleich Selbsterkenntnis ist, schon gesagt ist. Sie drücken die Einheit des eigentlichen, des geistigen Selbst mit der himmlischen Lichtwelt aus. Die zur Erkenntnis gekommenen erfahren sich hier und jetzt als Teil der göttlichen Welt.
Ein uns allen bekanntes Beispiel heute ist die Waldorf-Bewegung. Ich will nicht pauschal urteilen. Ich erzähle von meiner Geschichte mit einem Waldorfkindergarten in Wuppertal. Unsere Tochter Barbara war dort mit ihrer Behinderung ganz gut aufgehoben. Sie starb mit sieben Jahren ganz unerwartet. Nach dem Begräbnis ging ich zur Leiterin des Kindergartens und erzählte ihr von unserem Unglück. Sie engegnete ohne Zögern, unsere Barbara sei nun auf dem Weg zu den Sternen, und wir könnten uns doch über unseren neugeborenen Jona freuen, der von den Sternen zu uns gekommen sei. Sehr viel Spekulatives, was als Erkenntnis der Erleuchteten ausgegeben wird.
Ähnliches erfahren wir von Menschen, überwiegend Frauen, die auf esoterischen Wochenendseminaren den totalen Durchblick gewonnen haben. Solche Menschen teilen dann auch mit überlegenem Lächeln mit, dass sie über die Corona-Hysterie und die Pharma-Diktatur erhaben sind. Die Frage ist, ob auch ein Mit-Leiden im Sinne Christi überholt ist.
Wir finden in den weiteren Kapiteln des 1. Johannesbriefs in der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern den Schlüssel für die Betonung der Menschlichkeit Gottes: „Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der sich zu Jesus Christus bekennt, der im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; und jeder Geist, der sich nicht zu Jesus bekennt, ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrists..“ (Kap 4,2-3)
Wenn nur noch das Spirituelle wirklich ist und zählt, dann ist das Leibliche und Soziale unerheblich. Dagegen der 1. Johannesbrief: „Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, ist noch immer in der Finsternis.“ (Kap 2,9) Wiederholt wird an die Gebote erinnert, insbesondere an das Gebot der geschwisterlichen Liebe: „Ihr Lieben, lasst uns einander lieben! Denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, aus Gott gezeugt, und er erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe…Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt hätten, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünden.“ (Kap 4, 7-10)
Liebe Geschwister, ich hoffe nicht, dass Sie ob all dieser Worte schwindlig werden.
Worauf es dem Verfasser ankommt, ist die enge Verbindung der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth mit unserer Ethik. Den Schwärmern, den Antichristen, den Esoterikern ist das zu banal, vielleicht sogar peinlich, zumindest hinterwäldlerisch.
Wenn meine geistigen Erkenntnisse und Spekulationen aber dazu führen, dass die irdischen Probleme und Nöte keine Rolle mehr spielen, wenn sich Liebe nur noch im Geist erweist, haben wir eine ideale Plattform für gewissenlose PolitikerInnen und Wirtschaftsmagnaten. Wenn die geschwisterliche Liebe nur ein Thema der noch nicht Erleuchteten ist, kann ich jede Schweinerei als unerheblich für meinen Glauben rechtfertigen. Die Erniedrigung Gottes in Jesus Christus besagt ganz klar, dass die göttliche Gegenwart im Alltag unserer Welt nach einer liebenden Antwort sucht.
Rudolf Steiner, der viel Geliebte, pflegte zum Beispiel einen handfesten Rassismus und behauptete, die Menschen Afrikas seine Kinder, die stets der Anleitung durch zivilisierte Menschen bedürften. Seine Pädagogik ist so doktrinär, dass Alternativen als undenkbar betrachtet werden.
Ich will damit sagen: die Leiblichkeit des herunter gekommenen Gottes fordert zur Leiblichkeit unserer Liebe heraus. Z.B. wenn das Geschwafel von der europäischen Wertegemeinschaft sich als Deckmäntelchen einer europäischen Festung entpuppt. Gerade die Verdrängten und Verachteten bedürfen unserer Hilfe. Das gilt auch für die bundesdeutsche Entwicklungspolitik, für die RentnerInnenpolitik, für die Politik der sozialen Berufe und mit den sozial Abgehängten. Wir möchten doch gern einmal genauer wissen, was christliches Abendland bedeutet. Wenn es so christlich wäre, dürfte es nach dem Gebot Gottes keine Armen unter uns geben. Nicht zu vergessen: auch innerhalb unserer Gemeinde möchte die geschwisterliche Liebe konkret werden, besonders, wenn die Mehrheit der Gemeindeglieder gar nicht im Blick ist oder wenn ich jemand lieben soll, der oder die mir gestohlen bleiben kann. Das Motto „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, ist antichristlich.
Kurz, die ethische Sensibilität erwächst aus dem, was der Verfasser des 1. Johannesbriefs betont: mit der Menschwerdung Gottes bekommen gerade die Elenden, die Zukurzgekommenen, die Ratlosen, die Fremden und Vernachlässigten göttliche Würde. So erweist sich die geschwisterliche Gemeinschaft zur Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn Jesus Christus. Und, so schließt der Schreiber des 1 Johannesbriefs sein Vorwort „das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.“ (V 4)

Freude! Es muss dann nicht so laut sein wie im Schlusschor von Beethovens 9. Sinfonie (Freude, schöner Götterfunken..)

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen