Predigt über Jeremia 31, 31-34 im Gottesdienst der Gemeinde Oberwinter am Sonntag Exaudi , gehalten von Pfr.i.R. Wilfried Neusel (24.5.2020)

Liebe Geschwister hier in der Kirche und mit uns verbunden zu Hause,
wir hören das Wort Gottes, wie der Prophet Jeremia es uns im Kapitel 31, 31-34 überliefert hat: (Lesung aus der Neuen Zürcher Bibel)

Unglaublich, liebe Gemeinde! Was für ein Wort! Von erhabener und erhebender Schönheit. Es wird niemand mehr seinen Nächsten, seine Nächste oder seine Geschwister belehren. Die Kleinsten wie die höchsten Autoritäten werden allesamt Gott erkennen. Gott, der von seinem Volk Israel immer wieder bitter enttäuscht wurde, spricht: „Ich werde ihre Schuld verzeihen, und an ihre Sünden werde ich nicht mehr denken. Gottes Weisung wird ins Herz geschrieben, also zum Innersten der ganzen Persönlichkeit gehören, denn Herz und Atem sind in der Bibel die Organe, die das Wesen des Menschen ausmachen.
Was für ein Wort, liebe Gemeinde, nach den jahrelangen Gerichtsankündigungen Jeremias! Sie brachten ihm nicht nur Hohn und Spott, sondern auch Prügel und Verbannung und Gefängnis in einer Zisterne. Die Halsstarrigkeit der Könige Judas und ihrer Beamten, ja, auch der Priester und Hof-Propheten, machte ihn müde. Die babylonische Weltmacht ist vor der Türe, aber die Elite Judas glaubt, ihren sozial und wirtschaftlich maroden Kleinstaat mit Kriegskoalitionstricks retten zu können.
Die Weisungen Gottes werden frech ignoriert, und wenn es darauf ankommt, wird Gott um Hilfe angegangen, „weil er das ja um seiner Ehre willen tun muss“. (Jer 14)
Wie Voltaire später spöttisch Friedrich dem Großen sagte. „Vergebung ist das Metier Gottes.“
Und nach allem diese Heilsbotschaft! Unglaublich! Sie kommt mir vor wie dieser nach dem Abt Rene Haüy benannte tiefblaue Kristall, der sich in den Bimsablage-rungen von Vulkanen, auch am Laacher See, findet: Zeichen der erhabenen Schönheit Gottes inmitten von grauem Bims, dem Ergebnis einer ganz Europa verwüstenden Eruption.
Wir dürfen auf ein Leben mit Gott hoffen, das von aller Last unserer Vergangenheit,
von aller Eitelkeit und Selbstherrlichkeit, von Schuld und Versagen befreit ist. Wir sind – sozusagen – wieder im Paradies. Wunderschön! Und es würde mich nicht wundern, wenn einige von Ihnen nun hinzu fügten: Zu schön, um wahr zu sein.
Sie können sich vorstellen, dass dieses Wort aus dem Buche Jeremia eines der in der christlichen Geschichte meistzitierten ist. Es ist einfach so klar und rein, so grundstürzend wie schlicht. Wie ein tiefblauer Kristall im Dreck der Verwüstung. Mit Begeisterung fanden urchristliche Gemeinden: Ja, in Jesus Christus ist dieses Wort erfüllt! Der Evangelist Lukas bezeichnet das Mahl des Herrn als Mahl des neuen Bundes. In der Offenbarung 21,5 spricht der, der auf dem Throm saß: „Siehe, ich mache alles neu.“ Im 8. Kapitel des Hebräerbriefs ist Jeremia als Gewährsmann eines neuen Bundes zitiert. Darüber gab es vor allem zwischen Christen aus der Völkerwelt des römischen Imperiums und Juden bis zum Ende des 3. Jh. eine lebendige und gewiss oft auch heftige Auseinandersetzung. Aber dann, spätestens nach der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion entbrannte der gottes-lästerliche Furor: „Diese Wort gilt nicht der Anhängern der Gesetzesreligion. Es ist ein Schatz des wahren Israel, sprich: der Kirche!“
Es wurde vergessen, verdrängt, geleugnet, systematisch aus christlichen Hirnen verbannt, dass dieses Wort des Jeremia zuerst und immer wieder neu Israel gilt. Lesen Sie die Kapitel im Römerbrief 9-11! Paulus ringt um das Verständnis der messianischen Jesusbewegung auf dem Hintergrund seiner jüdischen Existenz. „Hat Gott sein Volk etwa verstoßen? Nein, gewiss nicht!“ „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“
Einer der bekanntesten Theologen des 20. Jh., Rudolf Bultmann, hielt es nicht für notwendig, diese Kapitel in seiner Theologie des Neuen Testaments zu bedenken.
Er meinte, das Problem des Paulus habe sich ja im Laufe der Kirchengeschichte erledigt.
Einer unserer Pfarrer aus dem Kirchenkreis Koblenz, Heinrich Weinmann, war als Motor der Deutschen Christen im Nazi-Regime sehr aktiv, unter anderem als Mitarbeiter im Eisenacher „Entjudungsinstitut“. Da stürzte man sich bezüglich einer „judenfreien“ protestantischen Theologie mit Vorliebe auf Lukas und bastelte ein „judenreines“ Evangelium in einer „judenreinen“ Bbel. Es störte diese Entstellungs-experten nicht, dass die anderen Evangelisten die Mahlworte Jesu ohne die Worte von einem „neuen Bund“ (im Sinne von Gegensatz und Überbietung des „alten“ Bundes überlieferten. Mit immer unverschämterer Hybris reklamierten die katholi-schen und die orthodoxen Kirchen in ihrer Geschichte, sie seien das wahre Israel, und das Wort des Jeremia gelte allein der Christenheit. Und für den Protestantis-mus ist es ein bleibender Skandal, ein Pfahl im Fleisch, dass die Nazis, darunter auch Pfarrer, sich hinsichtlich der Vernichtung der Judenheit auf Luther berufen konnten.
Immer wieder genanntes Argument – auch noch nach dem Ende der Nazi-Diktatur: Die Juden haben unseren Herrn Jesus gekreuzigt. Bis heute grassiert das Stere-otyp, die Juden seien Vertreter einer gnadenlosen Gesetzesreligion, von Rache-gedanken und Vergeltung vergiftet. In unserer Christentumsgeschichte sind mindestens 1000 Mal mehr Gesetze und Verordnungen erlassen worden als die 613 Gebote und Verbote der Tora. Und keine Zivilisation hat mehr Gewalt ausgeübt und Zerstörung angerichtet als das so genannte christliche Abendland. Trotz aller Liebeshymnen. Immer, wenn Krisen Europa erschütterten und ja, bis heute in der Coronakrise, werden Jüdinnen und Juden als Verschwörer und Feinde der Menschheit denunziert. Es mag auch böse Jüdinnen und Juden geben. Aber diese Verallgemeinerungen in Dunkelmänner-Manier müssten ehrlicherweise bedeuten, dass, nach demselben Maß geurteilt, das ganze so genannte christliche Abendland und besonders alle Evangelikalen in Brasilien und in den USA vom Erdboden getilgt werden müssten.
Unsere Evangelische Kirche im Rheinland war die erste weltweit, die nach einem langen und schmerzlichen synodalen Prozess 1980 eine feierliche Erklärung zur „Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ verabschiedete und dann auch in den Grundartikeln unserer Kirchenordnung verankerte. Kernpunkte der Erklärung: Gott hat seinen Bund mit seinem Volk Israel niemals gekündigt. Die Kirche ist durch Jesus Christus in den Bund mit seinem Volk hineingenommen. Sie glaubt mit der Judenheit, dass die Einheit von Gerechtigkeit und Liebe das heilsge-schichtliche Handeln Gottes kennzeichnet. „Wir glauben mit den Juden Gerechtig-keit und Liebe als Weisungen Gottes für unser ganzes Leben.“ Und: Christenheit und Judenheit sind „zur gemeinsamen Hoffnung eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ verbunden und treten in dieser messianischen Hoffnung gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden ein.
Liebe Geschwister, ich bemühte Ihre Aufmerksamkeit in einer Auseinandersetzung, die halt bleibende Wachsamkeit im Umgang mit den Worten der Bibel erfordert. Wer meint, Gottes liebende Zuwendung exklusiv und gegen andere Geschöpfe Gottes beanspruchen zu können, vergiftet die Lektüre und das Verständnis der Bibel und richtet sich selbst.
Ich habe viel von rabbinischer Auslegung gelernt, die einerseits in der Aktualisie-rung des Wortes der Schrift sehr kreativ und zuweilen auch eigenwillig sein kann. Andererseits aber werden die eigenen Erkenntnisse nie als abschließend betrach-tet. Immer wieder wird auf das Wort Gottes selbst verwiesen. Es gibt keine Dogmen, keine hierarchische Autorität. In der Gemeinschaft mit Anderen bin ich Teil eines göttlichen Konzerts. Ich bin verwiesen an eine Partitur, die immer wieder neu interpretiert werden soll. Und ich denke, dass dies schon ein schöner und erhellen-der Vorschein des zukünftigen Lebens mit Gott ist. Ich schätze außerdem in der rabbinischen Auslegung die Liebe zum Detail, ohne dass aus dem weltgeschicht-lichen Drama Gottes mit seiner Schöpfung ein Kammerspiel gemacht wird. Das wurde jedenfalls nach der Nazi-Herrschaft undnach dem 2. Weltkrieg die Gefahr, dass Christinnen und Christen sich in ihre Privatsphäre zurückzogen und einen Stil pflegen, der uns nach dem Krieg von Heinz Rühmann und von Tilly vorgemacht wurde. Ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit flüchteten sich Christinnen und Christen in eine heile, „neue“ Welt, in der auch der Konsum mit seinen immer neuen Angeboten eine wesentliche Rolle spielte und spielt. Während in der Kirche Repräsentanten dominierten, die so taten, als sei das Nazi-Regime ein Betriebsunfall gewesen. Statt Vertrauen auf die Verheißung des neuen Bundes stürzten die Kirchenfürsten sich in Nostalgie, und das Kirchenvolk stürzte sich in die Kaufhäuser. Die vermeintliche Harmlosigkeit auch der christlichen Bevölkerung war die Ausgeburt der Verweigerung von Verantwortung für das, was geschehen war. Wie Alexander Mitscherlich diagnostizierte: „die Unfähigkeit zu trauern“. Die alten anti-jüdischen Klischees wurden nicht bereut und nicht korrigiert.

Und das entdecke ich im Wort des Jeremia auch im Blick auf unsere Gegenwart und unsere Zukunft, wo uns das ganz neue SUV-Gefühl mit Abwrackprämie gepredigt wird, der Rausch eines Immobilienkaufs, der Genuß einer Kreuzfahrt, die mehr Schadstoffe und mehr Vernichtung von Lebensmitteln als alle anderen touristischen Angebote bedeutet. Unsere Regierung hätschelt die Lobby der großen Konzerne und der Großbanken, die oftmals im Nazi-Regime Menschen verachtend von der Zwangsarbeit profitierten und heute von der Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Osteuropa und im Süden dieser Erde. Mit einer nekrophilen Inbrunst, als wolle man bis zur Klima-Apokalypse noch mal so richtig einen drauf machen. Nicht nur die gotteslästerlichen Evangelikalen in den USA und in Brasilien sind Motoren der Apokalypse, sondern in gewissem Grade auch protestantische Kirchen in europäischen Ländern, weil unsere Kirchenleitungen ja in Partnerschaft mit dem Staat leben und allen wohl und niemand weh sein wollen.
Es wurde seit der Bekennenden Kirche vom „Wächteramt der Kirche“ geredet.
Das kam in der Vergangeheit gern bei der Sexualethik oder im caritativen Bereich zum Tragen. Nicht einmal die auf der Höhe eines Jeremia geschriebenen Enzykliken „Laudato Si“ und „Evangelii Gaudium“ von Papst Franciscus finden in der gegenwärtigen Arbeit protestantischer Kirchen spürbaren Widerhall. Er sagt z.B.: „Diese Wirtschaft tötet.“ Ja, und jetzt?
Wir reden von Erneuerung, von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und meinen, damit sei Gottes Sache genüge getan. Wie in der Politik herrscht der Ankündigungsjargon. „Wir müssen.. ja wir müssen.. gewiss, wir müssen.“ Wir sind mit Inbrunst auf der Suche nach einer neuen Verpackung:
„Kirche im digitalen Zeitalter!“
Aber weil wir die Gnade Gottes als Soße über einem gutbürgerlichen Leben mißbrauchen, kommen immer mehr Menschen ohne Kirche, ohne Gemeinde aus.
„Siehe, ich mache alles neu!“ sagt Gott dem ganzen Universum. Wir aber machen, wie gesagt, aus einem weltgeschichtlichen Drama ein Kammerspiel. Etiketten- schwindel, Egoismus, Furchtsamkeit und Banalität werden auf die Bühne gebracht. Es wäre doch wunderbar, wenn unserer Leben sich wenigstens im Schatten des Mistes des Esels des Messias entfaltete. So können wir nicht dankbar genug sein,
dass sogar wir in die von Jesaja angekündigte neue Welt Gottes einbezogen sind.

Wir hören im Text des Jeremia, dass nach der Heilung des Schadens, den Israel trotz der Erfahrung der Befreiung aus Ägypten angerichtet hat, Gott seine Treue zu Israel bekräftigt. Das ist Evangelium pur, denn der Ritus des Bundesschlusses aus dem Zerlegen von Kuh, Ziege und Widder in zwei Hälften und dem Hindurch-schreiten Gottes durch die Mitte der zerlegten Tiere implizierte traditionell, dass Bundesbrüchige so zerlegt werden wie die Opfertiere. Evangelium pur: dem Volk wird im Elend des Exils verheißen, dass Gott und sein Volk jenseits aller Entfrem-dung sich nahe sein werden wie Mann und Frau. Sie erinnern sich an die Redewendung: „und der Mensch erkannte Eva (Gen 4)“ Gott bindet sich nicht ungeachtet, sondern eingedenk und trotz der Geschichte mit seinem Volk auf
denkbar intimste Weise für eine gemeinsame, ja, man muss sagen, revolutionäre Zukunft. Und wir, Christinnen und Christen, sind als jüngere Geschwister durch Jesus Christus in die Verheißung einbezogen. Trotz allem!

Und nun: die Verfehlungen sind vergeben und vergessen. Die Menschen werden in der Gemeinschaft mit Gott verwandelt. Was aber außer der Treue Gottes unverän-dert bleibt, ist die Autorität der Tora, der Weisung Gottes. Sie ist auch für uns Richt-schnur und Maß. Wir sollten das als Reformierte nicht unter den Tisch kehren. Johannes Calvin, der sich außergewöhnlich ehrlich mit dem so genannten „Alten Testament“ auseinandersetzte, erklärte, dass die Zeremonialgesetze, u.A. auch die Beschneidung, für Christinnen und Christen nicht bindend seien, aber auch nicht einzig und allein die 10 Gebote.
Wir finden bei unvoreingenommenem Studium der Tora neben zweifellos Befremd-lichem unglaublich viele Weisungen, Vorschriften und Gesetze, die zu befolgen uns ein sozial und wirtschaftlich faires Fundament für eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft böte. Die ganze Tradition vom Sabbat, vom Sabbatjahr und vom Jobeljahr ist ein Programm zum Schutz von Mensch und Natur. Witwen, Waisen, Behinderte und Fremde genießen vorrangigen Schutz. Der Umgang mit ihnen ist Maßstab der Gerechtigkeit. Gegen Wachstum auf Teufel komm raus finden wir in der Tora eine Ökonomie des Genug und der sozialen Teilhabe.
Ein großes Missverständnis in der christlichen Frömmigkeit ist, dass sie alles sogenannte „Gesetzliche“ gegen das Evangelium ausspielt. Erstens gibt es auch in den Evangelien und Briefen konkrete Anweisungen zur sozialen Gestaltung christlichen Gemeindelebens. Und zweitens kommt da eine „Schlaraffenland- Mentalität“ ins Spiel, nach dem Motto „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“ Tja, wenn doch alles Gnade ist?!..Warten wir mal auf die nächste Wundertat Gottes!..
In den Unierten Kirchen kam nach den Erfahrungen der Katastrophe 1933 bis 1945
in der Tradition der Bekennenden Kirche der weise Slogan auf: „Nachdem Gott alles für das Heil der Welt getan hat, können wir nicht genug für das Wohl der Menschen tun.“

Wenn ich ehrlich bin, kann auch ich nach der Lektüre des Jeremia-Wortes häufig sagen: „Schön, ja. Zu schön, um wahr zu sein.“ Angesichts der Situation in unseren Familien, in unseren Nachbarschaften, in unserer Gemeinde, in unserem Land und vor allem in den Ländern des Globalen Südens kann ich doch auch verzweifeln und mich von meinem Glauben verabschieden.
Während die Judenheit angesichts der heillosen Welt fragt: „Wann endlich kommt der Messias?“ sitzen wir ganz in ihrer Nähe und fragen: „Wenn der Messias gekommen ist, wieso immer noch das Elend in dieser Welt?“ Verlegenheiten machen oft solidarisch. Für mich ist ganz wichtig, dass in jüdischen und christlichen Reflexionen zum Leben mit Gott nach Ausschwitz und zum Leben in dieser Welt hier und jetzt dem Glauben an Gott nicht allgemein abgeschworen wird. Keine zynische Resignation! Elie Wiesel schreibt einem Freund: „Ich muss dir sagen, Dick, dass du die Menschen in den Lagern nicht verstehst, wenn du behauptest, es sei schwieriger, heute in einer Welt ohne Gott zu leben. Nein! Falls du Schwierig-keiten haben möchtest, entscheide dich dafür, mit Gott zu leben. Die wirkliche Tragödie, das wahre Drama ist das Drama derer, die heute noch glauben!“ Der Weg Elie Wiesels möge auch der unsrige sein: wir begreifen Gott als den, der solidarisch mit uns teilnimmt am Kampf gegen das Böse. Und wir begreifen uns als solche, die volle Verantwortung für diese Schöpfung tragen. So wie Bonhoeffer es in seinem Glaubensbekenntnis zum Ausdruck bringt. Wir leben nach der Tora so gut wir können, ohne spirituelles Kapital, von dem wir jederzeit beliebig Gebrauch machen können. Wir üben ganz persönlich, aber auch in der Gemeinschaft unserer Gemeinde und unserer Ökumene vor Ort, sicher auch in unseren säkularen politischen Institutionen, das Tun der Gerechten ein. Sesselpupser können keine Erfahrungen mit Gott machen.
Wenn wir uns selbst exponieren und uns aufs Spiel setzen, wird Gott uns begegnen und uns tragen. In der hebräischen Bible finden wir keinen Ausdruck für eine „Allmacht“ Gottes. Wir können uns mit den Worten des Jeremia nicht vergnügen nach dem Motto: „So, lieber Gott, jetzt zeig mal, was Du kannst.“ Wir sind von Gott befreit, volle Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, Verantwortung für uns, für unsere Nächsten, auch für die fernen Nächsten und die Feinde.

Mir hat im Leben sehr geholfen, was Bischof Desmond Tutu 1990 im Windhoeker
Stadion den Christinnen und Christen Namibias nach 150jähriger Kolonialzeit im Unabhängigkeitsgottesdienst zurief: „Unser Gott ist ein Gott der Überraschungen.“
Und so entdecke ich in mir und um mich herum so viele Zeichen göttlicher Nähe: Vergebung und Versöhnung, Uneigennützigkeit, Furchtlosigkeit im Kampf gegen Korruption und Etikettenschwindel, gute Zusammenarbeit in der ökumenischen Gemeinschaft und in den vielen Zweigen kirchlicher Weltverantwortung, Mühen um Verständigung mit Glaubenden anderer Religionen, beeindruckende Liebe zu Hilfsbedürftigen, Sorgfalt im Umgang mit Flüchtlingen, Aktionen zum Schutz der Natur – und nicht zuletzt die Möglichkeit und Fähigkeit, mich zu ändern und im Sinne Gottes weiter zu entwickeln.
Diese Zeichen der Treue Gottes sollen wir nicht gering schätzen. Und die Perspek-tive, dass die Kluft zwischen Wissenden und Nichtwissenden einmal verschwinden wird, ist auch sehr schön. Verschwörungstheorien sind dann erledigt.
Amen