„Bleib bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt.“
Die inständige Bitte, von Joseph Gabriel Rheinberger anrührend vertont, markiert eine entscheidende Wende auf dem Weg zweier Jünger vom Grauen angesichts der qualvollen und schändlichen Hinrichtung Jesu zurück in ihren vermeintlich trostlosen Alltag. In der Gemeinschaft mit Jesus hatten sie die befreiende und beglückende Begegnung mit Gott. Menschen, vom Römischen Imperium wie auch von der jüdischen Glaubensgemeinschaft marginalisiert und verachtet, wurden von Jesus geheilt, vom Stigma der Sünde erlöst und ermutigt, den Verheißungen der Heiligen Schriften zu vertrauen. Durch die Kreuzigung Jesu war für die Beiden alles noch schlimmer als zuvor. Die hochgemuten Hoffnungen auf das Kommen der neuen Welt Gottes wurden durch Macht und Gewalt des Römischen Reiches zertrümmert. Drei Frauen, die ersten Zeuginnen der Auferweckung Jesu, ernten von den Aposteln nur Geringschätzung. Ihnen erschienen die Worte „wie leeres Geschwätz“. (V 11)
Ich finde mich in der Geschichte der Emmaus-Jünger wieder, vielleicht auch Sie, auch Ihr. Ich habe von Kindheit an durch das Beispiel meiner Eltern und Großeltern zu einem lebendigen Glauben gefunden. Und er wurde befeuert durch viele Aufbrüche im politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Leben der Bundes-republik. Seit 1990 erleben wir bis heute einen Absturz in nationalen Egoismus, in zynische Vernachlässigung der großen Mehrheit der Weltbevölkerung und Missachtung der einst feierlich beschworenen Menschenrechte. Die Sonntagsreden der Regierungen konnten und können das nicht verschleiern. Soziologen attestieren eine Verrohung unseres gesellschaftlichen Lebens, eine egoistische Gier nach unbeschwertem Leben angesichts der drohenden Klimakatastrophe. Selbstoptimierung statt Solidarität. In vielen christlichen Gemeinden leben die Gemeindeglieder wie in einer Blase. Deshalb meine Unruhe und die Frage: Wo ist Gott. War die Botschaft der Bibel nur ein Wunschtraum meiner kirchlichen Sozialisation?
Die Jünger werden unversehens von einem Unbekannten begleitet. Er provoziert die Rekapitulation der Geschichte des Grauens und erfährt die maßlose Enttäuschung der Jünger. Die Antwort des Gekreuzigten und Auferweckten ist eine Auslegung der Heiligen Schriften. „Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht.“ Das rechte Verständnis der Erfahrungen des Mose, der das verheißene Land nicht erleben konnte, und der Propheten, die mit ihren anstößigen Botschaften enormen Widerstand der Mächtigen und großes Leid ernteten – und Unglauben, wenn sie in den Abgründen der Geschichte Israels Heil verkündeten, ist der Schlüssel zum Verständnis des Weges Jesu. Er beglaubigte die Botschaft seiner messianischen Regierungserklä-rung, die Botschaft der Bergpredigt, buchstäblich durch seinen Lebensweg. Kein Konfliktmanagement durch die himmlischen Heerscharen, sondern Überwindung des Teufelskreises von Gewalt und Gegengewalt durch Nächsten- und Feindesliebe, ja, auch im Erdulden von Schmach und Schmerzen. Die jüdischen
Oberen opferten Jesus, um ihre eigene Haut zu retten, aber den beiden Jüngern und unzähligen Gläubigen in der Folge, begann es zu dämmern: Wer am meisten liebt, hat am meisten zu leiden. Aber das ist eben nicht alles, es ist nicht das Ende.
Auch ich erlebe es, wenn ich Gott bitte: Bleibe bei uns, am Abend dieses Tages, am Abend meines Lebens und am Abend dieser Welt. Der Lobpreis des Auferweckten beim Abendmahl, das Sakrament des Brotbrechens eröffnet gnädig die Erkenntnis der Wege Gottes mit uns. Und das immer neue Bedenken der Botschaft der Bibel führt mich heraus aus Resignation und Angst. Mein brennendes Herz ist Zeichen der Ahnung, dass Gott uns durch Aushalten von Widerspruch und Verachtung zu Menschen macht, die in der Nachfolge Jesu Christi den so genannten Loosern zum Segen werden. Stellvertretendes Leiden ist die Gebärmutter der neuen Welt Gottes.Und das Bleiben in der Liebe Gottes ist die Muttermilch unserer Gemeinden.
Wie viele Komponisten und Komponistinnen haben das in ihrem Leben erfahren, insbesondere im dreißigjährigen Krieg! Und sie haben mit ihren Werken einen Vorschein himmlischen Friedens und himmlischer Freude geschaffen. Amen.
