Predigt über Philipper 3, 4b – 12 in der Ev. Kirchengemeinde Oberwinter (21.09.2025) von Pfr.i.R. Wilfried Neusel

Gnade sei mit euch und Friede, von dem der da ist, der da war und der da kommt!

Liebe Gemeinde,

Paulus, der Botschafter Jesu Christi, ist schon einige Zeit vor uns in Europa angekommen. Er hat eine wichtige Botschaft: Es gibt für uns ein Ereignis, das unsere heiligsten Überlieferungen, auch die unseres Glaubens, in völlig neuem Licht erscheinen lässt. Ich lese aus seinem Brief an die Gemeinde in Philippi: Phil 3, 4b-12

Liebe Schwestern und Brüder, auch wir sind immer wieder auf dem steinigen Weg nach Europa, über viele geographische, geschichtliche und politische, aber auch konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg. Wie es scheint, sind wir gegenwärtig auf einer schwierigen Strecke. Mehr und mehr Menschen, auch solche, die sich christlich nennen, denken bei Europa nur an Brüssel, an undurchschaubare Bürokratie, an Verschwendung und an Bevölkerungsmischmasch. Und was sollen wir mit all den Migranten? Sollen sie doch im Meer ertrinken! Europa soll zu einer uneinnehmbaren Festung werden.

Fachleute sprechen sogar von einer Krise der ökumenischen Bewegung. Insbesondere herrscht in etlichen Kirchen Angst vor Gleichmacherei und vor dem Verlust der eigenen Tradition.

Ja, es gibt wohl eine Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und die „Konferenz Europäischer Kirchen“. Die römisch katholische Kirche beansprucht, Weltkirche zu sein. Aber immer noch können kulturelle und historische Gräben trennen, sogar Kirchen derselben Konfession. Und die größte Versuchung der protestantischen Kirchen ist ihre Neigung, ihre Vielfalt als Alibi für ein Beharren in der eigenen Provinzialität zu benutzen.

Paulus setzt sich in der von ihm gegründeten Gemeinde in Philippi mit Judenchristen

Auseinander, die die Beschneidung als unverzichtbaren Bestandteil christlichen Lebens propagieren.

Paulus ist auch Judenchrist und könnte sich seiner jüdischen Identität mehr rühmen als seine Gegner. Am 8. Tag beschnitten, gehört er zum auserwählten Volk Israel, hat einen astreinen Stammbaum und trägt den Namen des Königs Shaul aus Benjamins Stamm. Er trägt den Ehrennamen des treuen Juden und hat nach strenger pharisäischer Tradition seinen Glauben im Tun der Gebote bewährt. Mit Eifer, mit Entschiedenheit hat er die Gemeinde Jesu Christi als häretische Sekte verfolgt, weil er überzeugt war, dass diese Sekte gegen Gottes willen entstanden war. Paulus, das Musterbeispiel eines überzeugten Fundamentalisten.

Es ist keine Biographie eines Gescheiterten, das Leben des Paulus war anders als bei Martin Luther nicht umgetrieben von der Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“

Nein, das Leben des Paulus wurde durch eine erschütternde Überraschung Gottes umgekrempelt, eine Überraschung, die alle Welt angeht und verändert. Durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten war der Weg des frommen Juden nicht mehr der allein selig machende.

Durch die Begegnung mit dem lebendigen Christus vor Damaskus ist Paulus die stolze Tradition zum Dreck geworden, wie er es selbst nennt. Seine Identität wird nun ganz und gar bestimmt von der freien Gnade Gottes, die in der ziemlich bunt zusammengewürfelten Gemeinde Christi bewährt wird.

Beide Merkmale der Bekehrung des Paulus stehen quer zu unseren Erwartungen.

Es ist eine Bekehrung von der Vollkommenheit zur Unvollkommenheit. Paulus bekennt der Gemeinde in Philippi: „Nicht, dass ich´s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei..“ Und es ist eine Bekehrung vom Verfolger zu den Verfolgten. Er trägt das Sterben Christi an seinem Leibe, ist um des Evangeliums willen im Gefängnis, wird gedemütigt, sogar in den eigenen Reihen.

Paulus setzt sich dem Widerstand derer aus, die aus politischen oder religiösen Gründen, oder weil sie machtgeil sind, Gott den Sieg seiner befreienden Liebe streitig machen wollen. Er tut es, weil er das Größte und Schönste erfahren hat, was ein Mensch erfahren kann: dass Gott ihn ohne Bedingungen anerkennt. Deswegen konnte er sich zu seiner Unvollkommenheit und zu den Opfern seiner Verfolgungskampagne bekehren.

Was hat das mit der Zukunft Europas zu tun? „Europa steht für die unbegriffenste Sache der Welt, für ein mächtiges Nicht – nicht Staat und nicht Gesellschaft…“ „Du sagst mich tot, also bin ich!“ lautet das Motto Europas. Der erfahrene Europaforscher Ulrich Beck schreibt in seinem Buch „Das kosmopolitische Europa“. „Europa gibt es nicht, es gibt nur Europäisierung, verstanden als institutionalisierter Prozess der Dauerveränderung.“ Und er fragt: „Ist es vielleicht diese radikale selbstkritische Konfrontation mit der eigenen Geschichte, die Europa beispielsweise von den USA oder den islamischen Gesellschaften unterscheidet.?“

Könnte das, liebe Gemeinde, nicht bedeuten, dass der Weg zu einem auf Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Solidarität aufbauenden kosmopolitischen Europa eine politische Entsprechung der christlichen Existenz ist? Die Schlüsselfrage des Soziologen Beck lautet: „Wie kann jenseits der alten Stabilisatoren eine neue Art der Gesellschaft und Politik entdeckt und begründet werden…?“ Ein wichtiger Teil seiner Antwort ist, dass er die Bedeutung der Zivilgesellschaft hervorhebt. Besser gesagt – der Zivilgesellschaften.

Da sind wir als Kirchen mit angesprochen. Oder doch nicht? Beck behauptet: „Anders als nationale oder ethnische Identitäten, die sich verbinden und verschmelzen lassen, schließen sich religiöse Identitäten gerade aus.“

Folgen wir dem Apostel Paulus! Er verkündigt nicht das Programm von territorial gefestigten „Religionsmächten“, wie es die serbischen oder russischen Orthodoxen oder die baltischen Lutheraner sind, sondern einen offenen Himmel und eine Ökumene, die sich am Weg Jesu Christi orientiert; nein, nicht nur orientiert, sondern von Christus ergriffen und auf den Weg gebracht ist. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Mit dieser Ansage wird Paulus zum Musterbeispiel interkulturellen und interreligiösen Lernens, weil er alle für das neue Leben mit Gott zu gewinnen möchte. Er kommt nicht mit Machtansprüchen, sondern als Bittender an Christi statt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“

Er entzieht sich dem Anspruch frommer Parteilichkeiten: „Wer ist Paulus, wer ist Apollos, wer ist Petrus? Hauptsache, dass Christus gepredigt wird!“ Er manipuliert nicht mit klugen Worten, „damit nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde.“

Ich bin überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass die vielfältige Erinnerung an den leidenden Christus Europa auch jenseits christlicher Kirchen die Kraft zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Folgen traditioneller Machtansprüche gibt.

Der Anstoß zu einer auf der Menschenwürde und den Menschenrechten gegründeten offenen Gesellschaft, die lernt, Konflikte friedlich auszutragen, die Gerechtigkeit an den Ausgegrenzten und Benachteiligten bewährt, sich kümmert um Gescheiterte und die Erfolgreichen sozialpflichtig macht, ist für mich die Frucht des Zeugnisses des Paulus vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus aus Nazareth.

Wir lernen von Paulus, das Denken in Schablonen zu überwinden. Wir können an der Seite Jesu nicht mehr sagen: „die Russen, die Juden, die Migranten, die Schmarotzer!“ Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. „Bio-Deutsche“ gibt es schon seit den Zeiten der römischen Herrschaft nicht mehr. Genauer gesagt: hat es noch nie gegeben.

Ich denke an die Hugenotten, die um des Evangeliums willen über 250 Jahre blutig verfolgt und als Flüchtlinge Europäer wurden. Wie Paulus haben sie die „Gemeinschaft  der Leiden Christi“ erfahren und gerade so auch „die Kraft seiner Auferstehung“, mit wunderbaren Beiträgen zur Geistesgeschichte wie zur politischen Gestaltung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Europa.

Sie haben immer die Gemeinschaft mit Glaubensgenossen über alle Grenzen hinweg gesucht und „nach dem gejagt, was da vorne ist“. Weil sie fest auf das Bürgerrecht im Himmel hofften, konnten sie auf der Erde für ein Bürgertum nach dem Maß des Menschlichen streiten. Renaud Séchan, ein  französischer Sänger hugenottischer Abstammung, selbst ganz unkirchlich, antwortet auf die Frage, warum er politisch links stehe: „Ich bin Urenkel eines Pfarrers, dessen Großvater und Vater auch Pfarrer waren. Obschon ich nicht gläubig bin, beanspruche ich meine Zugehörigkeit zu dieser Herzens- und Geistesgemeinschaft, deren Namen `Protestanten´ wie eine Identität klingt. Gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Elend, Rassismus, Krieg, Fanatismus und Intoleranz protestieren, sie anzeigen und bekämpfen, das ist wahrlich, was meinem Leben einen Sinn gibt.“

Ein geeintes Europa ist in der Tat das größte Friedensprojekt unserer europäischen Geschichte. Und trotz aller Skepsis und trotz aller berechtigten Kritik ist es wichtig, sich auch kirchlich dafür zu engagieren. Der Rückfall in halsstarrigen Nationalismus hat uns schon zwei Mal in den Untergang getrieben.

Paulus schreibt von sich: „Nicht, dass ich es schon erlangt hätte oder schon vollkommen wäre! Ich jage ihm aber nach, und vielleicht ergreife ich es, da auch ich von Christus Jesus ergriffen bin…Was zurück liegt, vergesse ich und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt. Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen, der unserer Berufung durch Gott in Christus Jesus verheißen ist.“

Gott ermutigt uns durch Paulus, den Botschafter an Christi statt, über Grenzen hinaus zu denken und zu leben, fundamentalistische Selbstbehauptung zu durchbrechen, die Auseinandersetzung mit Gegnern und Feinden im Geist schöpferischer Liebe zu wagen.

Klar, wir wären ja so gern schon am Ziel, wir würden gern schon in der neuen Welt Gottes vollendet sein. Aber wenn wir jetzt nichts sehnlicher wünschen, als sei deutsche christlich-bürgerliche Gemütlichkeit das Ziel, werden wir jeden Tag neu von Schreckensnachrichten auf den schwankenden Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Wenn wir im Vertrauen auf Gott, den Schöpfer und Vollender des Universums, egoistische Identitätssuche überwinden und Brücken bauen im Geiste der Bergpredigt Jesu, dann sind wir auf dem richtigen Weg, so krumm und steil er auch sein mag.